Seraphim
wovon die Erwachsenen sprachen.
»Was haben wir getan, dass Gott uns mit ihr straft?«, wisperte ihr Vater, ein Mann, der sein Geld mit harter Arbeit als Zimmermann verdiente.
Der Arzt mühte sich nicht, leise zu sprechen. »Da müsst Ihr einen Priester fragen, nicht mich.«
»Aber Ihr seid Medicus! Es muss doch ein Mittel geben, gegen diese – Krankheit.« Vater spie das letzte Wort aus. Auch er war jetzt lauter geworden.
»Ich tue alles, was in meiner Macht steht.« Ein leises metallisches Klirren verriet Katharina, dass der Arzt seine Skalpelle einpackte. Die Schnitte an ihren Handgelenken juckten, und fast hätte sie sich verraten, indem sie daran gekratzt hätte. Sie konnte sich gerade noch beherrschen.
Ihre Gedanken vollführten einen wilden Tanz. Sie wollte nicht krank sein, schon gar nicht wollte sie an einer so seltsamen Krankheit leiden, an einer, die ihren Körper unversehrt ließ, aber alles rings um sie herum in diese Düsternis tauchte. Vergib mir, Herr! , betete sie im Stillen. Ich weiß zwar nicht, was ich getan habe, dass du mich so strafst, aber bitte vergib mir!
Sie bekam keine Antwort.
Dann wandelte sich ihr Traum. Sie ging barfuß über eine Wiese, aber sie spürte das Gras unter ihren Sohlen kaum. Es war ein anderer Tag, der letzte Aderlass lag lange Zeit zurück, das wusste sie. Trotzdem fühlte sie sich schwerfällig. Müde. Traurig. Sie hörte Vater rufen, und sie gab sich Mühe, seinem Befehl Folge zu leisten. Mit langsamen Schritten ging sie auf das Haus zu.
Als sie es betrat, sah Vater ihr auf der Stelle an, was in ihr vorging. Sein Gesicht, das bis zu diesem Moment freundlich ausgesehen hatte, verfinsterte sich mit solcher Geschwindigkeit, dass Katharina rückwärts wich. Aber sie hatte inzwischen die Tür hinter sich geschlossen und prallte gegen das Holz.
»Schon wieder?«, flüsterte ihr Vater. Um seine Augen hatten sich tiefe Falten gebildet.
Sie konnte nur nicken.
Und dann tauchte etwas in seinen Augen auf, das sie dort noch nie zuvor gesehen hatte. Zorn. Rasender, ohnmächtiger Zorn, der ihn die Hände zu Fäusten ballen ließ. »Komm her!«, sagte er mit erstickter Stimme.
Sie gehorchte. Er packte sie.
Und zog den Gürtel aus seiner Hose.
»Du – bist – nicht – krank!«, schrie er auf sie ein. »Du – bist – nicht -« Bei jedem einzelnen Wort klatschte der Gürtel auf ihren Rücken. »- krank!« Ihr Hemd zerriss und ebenso ihre Haut.
Katharina rannen die Tränen über das Gesicht, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Irgendwann ließ der Vater keuchend von ihr ab, und sie fiel auf den Fußboden, wo sie blutüberströmt und zitternd liegenblieb.
Die Tür öffnete sich, jemand kam herein. Katharina konnte den Kopf nicht heben, aber sie hörte die Stimme ihrer Mutter.
»O Gott! Was hast du getan?« Mutter stürzte zu ihr, nahm sie in die Arme. Ihr Rücken stand in hellen Flammen, aber noch immer schwieg sie. »WAS HAST DU GETAN?«, schrie Mutter.
Der Gürtel rutschte dem Vater aus der Hand und klatschte auf den Boden. Katharina zuckte zusammen bei dem Geräusch. Ihre Mutter hielt sie fester, sie weinte jetzt.
Und auch der Vater weinte. »Ich habe solche Angst«, schluchzte er.
»Angst?« Die Mutter kreischte.
»Angst, dass sie besessen ist! Besessen, Mechthild! Von diesem ... vom Teufel!« Schwerfällig bückte er sich und hob seinen Gürtel auf. Katharina sah, wie das Blut daran seine Hände rot färbte. Er bemerkte es, starrte darauf nieder, dann verließ er das Haus, als sei er von Dämonen gehetzt.
Schluchzend wiegte ihre Mutter Katharina in den Armen, und jetzt kamen auch ihr selbst die Tränen. Aber sie weinte nicht wegen der Schmerzen. Sie weinte, weil sie die Schläge willkommen geheißen hatte.
Sie hatten die Düsternis vertrieben.
Wenigstens für einen kurzen Augenblick.Mit einem Keuchen schreckte Katharina aus dem Schlaf und bemerkte, dass es wieder Tag geworden war. Die Erinnerung an den Traum verblasste. Sie fühlte sich etwas besser. Langsam setzte sie sich auf. Die mit Stroh gefüllte Matratze knisterte leise, als sie sich bewegte. Leichter Blütenduft stieg ihr in die Nase und überdeckte den Geruch von Staub. Jemand hatte das Bett frisch für sie bezogen.
Aber wer?
Wo war sie?
Sie hatte keine Ahnung.
Sie wollte die Füße aus dem Bett schwingen, aber plötzlich überkam sie die Erinnerung wie ein Blitzschlag: weiße Federn, die durch den grauen Staub gezogen wurden. Wie ein kleines Kind wimmerte sie auf und presste beide
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