Seraphim
schien zu lauschen. Die Augen hatte er halb geschlossen und so sehr nach oben verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Tränen rannen ihm über die stoppeligen Wangen, und er begann zu flüstern: »Da sagte ich: Wehe mir, ich bin verloren! Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen ... da flog einer der Seraphim zu mir; er trug in seiner Hand eine glühende Kohle ... damit berührte er meinen Mund, und ich hörte die Stimme des Herrn!«
Katharina sah, wie Faro mit den Fingerspitzen über die eigenen Lippen tastete, als könne er dort die Berührung des Engels spüren. Im nächsten Moment riss er die Lider so weit auf, wie es nur ging. Seine Augäpfel rollten in den Höhlen hin und her und kehrten sich schließlich wieder nach vorne. »Sechs Flügel, Matthias! Nicht nur zwei! Du Idiot, kannst du eigentlich gar nichts richtig machen? Nicht mal sterben ... sogar das machst du falsch! Es müssen doch sechs Flügel sein, Matthias. Sechs!« Das letzte Wort wimmerte Faro, dann rutschte er an der Zellentür nach unten, ohne den Rahmen des Fensterchens dabei loszulassen.
Das Metall, mit dem das Guckloch verstärkt war, war scharfkantig; es schnitt in Faros Finger, und Blut quoll hervor.
Katharinas Mund war trocken. »Faro!«, hauchte sie.
Mit einer ähnlich schnellen Bewegung wie beim ersten Mal kehrte er an das Fenster zurück. Diesmal erschrak Katharina nicht. »Was ist euch passiert?«, fragte sie so eindringlich, wie sie es vermochte. »Was ist mit Matthias geschehen, Faro? Erinnerst du dich?«
»Der Engel des Herrn kam über uns!« Faro riss die Arme hoch,als wolle er auf die Knie fallen, doch er blieb stehen. Er schwankte. »Er streifte Matthias, und Matthias fiel.« Jetzt bemerkte er, dass seine Finger bluteten. Er steckte alle vier gleichzeitig in den Mund und saugte daran. »Blut!«, quetschte er an seinen Knöcheln vorbei. »Eine Menge Blut.«
Katharina verlor die Beherrschung. Sie fasste in das Guckloch und rüttelte an der massiven Tür. »Reiß dich zusammen!«, schrie sie Faro an. »Sie werden dich des Mordes anklagen, wenn du ihnen nicht sagen kannst, was passiert ist!«
Kurz stand er da wie ein Junge, den man ungerechterweise gescholten hatte. Seine Augen waren noch immer groß, aber seine Augäpfel zuckten jetzt nicht mehr. Starr blickte er Katharina an. Dann nahm er die Hand aus dem Mund. Ein Blutstropfen hing an seiner Unterlippe, aber er bemerkte es nicht. »Hab ich doch schon gesagt.« Nun klang er wirklich wie ein kleines Kind. Trotzig. Und wütend. »Der Engel war es!«
Katharina biss sich auf die Innenseite der Wange, um ihn nicht noch einmal anzubrüllen. Langsam ließ sie die Hand sinken. Zähe Feuchtigkeit klebte an ihrer Haut, und sie wischte sie an ihrem Rock ab. »Warst du es, Faro?«, fragte sie so beherrscht wie möglich. »Hast du meinen Bruder ermordet?« Sie versuchte sich Faro über den toten Schwan gebeugt vorzustellen, doch es wollte ihr nicht gelingen.
»Der En-gel!«, sang Faro, »der En-gel, En-gel, En-gel war es!« Und dann rezitierte er weiter: » Ein jeder hatte sechs Flügel und mit zwei Flügeln bedeckten sie ihr Gesicht. Weil sie es nicht mit ansehen konnten, was mit dem armen Matthias geschah. Was der schwarze Dämon mit ihm ...« Abrupt verstummte er, denn in diesem Moment öffnete Sebald die Tür wieder und kam herein.
Faro klappte den Mund zu und schlang die Arme um seinen Oberkörper.
Katharinas Herz sank. »Was wolltest du sagen, Faro?«, drängte sie. »Ein schwarzer Dämon? Hat er Matthias umgebracht?« Sie brachte ihr Gesicht so dicht wie möglich an das Guckloch, aber Faro wich in die Schatten im hinteren Teil seiner Zelle zurück. Nur noch schemenhaft war er zu erkennen.
»Kein Dämon!«, wimmerte er. »Ein Engel! Ein Seraphim. Mitzwei Flügeln. Und er nahm seine Flügel ab und gab sie Matthias, auf dass er fliegen sollte. Und Matthias flog hinauf zu Gott, und dort sitzt er jetzt und lacht uns aus!« Faro ließ seine Worte in langgezogenem Gelächter enden, das in Katharinas Ohren gellte.
Sie legte die Arme um ihren Kopf, doch es nützte nichts. Faros irres Lachen drang durch alle Schutzmaßnahmen hindurch. Sie schrie auf.
»Komm!« Sebald war kaum zu verstehen, doch sein Griff brachte Katharina zur Besinnung. Sie ließ sich von ihm in den Arm nehmen und von der Zelle fortführen.
Erleichtert sah sie zu, wie er die schwere Zwischentür ins Schloss warf und damit das irre Gelächter abschnitt. Nur noch undeutlich, wie aus großer Ferne, war es
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