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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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stand etwas über Maximilian Wagner. Der Junge war also fleißig gewesen. Ich hätte liebend gerne weitergelesen, doch war ich schon spät dran. Mühsam riss ich mich los und zog meinen dicksten Mantel an.
    Die Stille im Treppenhaus war beängstigend. Selbst wenn man nichts Böses im Schilde führt, fühlt man sich irgendwie schuldig, wenn man zu Unzeiten aus dem Haus geht oder heimkommt. Als ich noch mit Ahmet verheiratet gewesen war, hatte er einmal gesagt: »Sogar wenn du gar nicht da bist, habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich spät heimkomme.«
    Er liebt dich eben, hatte ich mir damals gesagt und auf seine Worte nicht weiter geachtet. Bis mir schließlich bewusst wurde, dass für ihn unsere Ehe nur mehr aus Verantwortung und Schuldgefühlen bestand. Genauer gesagt teilte er mir das sogar selbst mit. »Versteh mich bitte, ich halte das einfach nicht mehr aus. Mit dir hat das nichts zu tun. Ich bin nun mal für die Ehe nicht geschaffen, es war ein Fehler von mir, zu heiraten. Ich ersticke in dieser Ehe.«
    Draußen auf der Straße zuckte ich zusammen, so kalt war es.Der Regen hatte aufgehört, aber es wehte ein eisiger Wind. An einen derart kalten Tag konnte ich mich nicht einmal erinnern. Meine Großmutter sagte manchmal: »Es riecht nach Schnee«, und oft schneite es danach auch. Und als gebürtige Anatolierin sagte sie auch: »Schnee ist die Bettdecke Anatoliens.«
    Der schwarze Mercedes stand schon unter einer Straßenlaterne. Ich war froh, dass Süleyman mich nicht hatte warten lassen, doch als ich die Autotür öffnete, schlug mir so beißender Zigarettenrauch entgegen, dass ich mich nicht beherrschen konnte.
    »Pfui Teufel, das stinkt ja fürchterlich! Wie kann man alles so vollrauchen? Hätten Sie nicht draußen rauchen können?«
    Der Rauch stieg mir in die Augen und reizte meine Kehle. Ich merkte sehr wohl, dass ich mich in Wortwahl und Ton vergriffen hatte, aber es war nun mal geschehen.
    »Es ist kalt draußen«, knurrte Süleyman.
    »Sie hätten wenigstens ein Fenster aufmachen können«, sagte ich und tat dies nun an seiner Stelle.
    Brüsk fuhr Süleyman viel zu schnell an. Überhaupt so eine Angewohnheit türkischer Männer: Sobald sie sich aufregen, fahren sie zu schnell. Deshalb darf man auch nicht streiten mit ihnen, wenn sie am Steuer sitzen.
    »Fahren Sie langsamer«, sagte ich streng, »wir haben Zeit.«
    Durch das offene Fenster peitschte mir die Kälte ins Gesicht. Ein furchtbares Wetter. Wo wollte der Professor an so einem Tag nur hin? Ich zitterte am ganzen Leib. Süleyman war anzusehen, wie verärgert er war, weil ich noch immer nicht wegen seines Neffen beim Rektor vorgesprochen hatte.
    »Süleyman, warum machen Sie die Heizung nicht an?«
    »Weil sie kaputt ist.«
    Plötzlich höre ich eine Stimme an meinem Ohr, eine Englisch sprechende Männerstimme.
    »Wollen Sie die ganze Zeit so weiterschreiben?«
    Verdutzt sehe ich den neben mir stehenden Mann an, den ich noch nie im Leben gesehen habe.
    »Wahrscheinlich«, sage ich lächelnd.
    »Sie schreiben schon, seit wir losgeflogen sind«, sagt der Mann, ein Amerikaner mittleren Alters mit graumeliertem Haar.
    »Eigentlich schreibe ich schon viel länger. Ich trage meine Notizen zusammen und ändere das eine oder andere.«
    »Alle schlafen, und Sie arbeiten die ganze Zeit. Sind Sie Schriftstellerin?« Er spricht sehr leise, um die Leute um uns herum nicht zu stören.
    »Nein, aber ich schreibe ein Buch.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Na ja, ich bin keine echte Schriftstellerin und habe auch nicht vor, das weiter zu machen. Aber ich schreibe etwas auf, was ich erlebt habe.«
    »Dann muss es etwas sehr Besonderes sein.«
    »Und ob«, erwidere ich lächelnd.
    »Dann lasse ich Sie mal in Ruhe.«
    Jetzt wo er weitergegangen ist, merke ich, wie verspannt ich bin. Arme, Schultern, Hals, alles ist ganz steif. Wahrscheinlich, weil ich ständig in der gleichen Haltung dasitze.
    Ich stehe jetzt auf und gehe zweimal das ganze Flugzeug ab, einmal links und einmal rechts.
    Der Airbus 340 ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie viele verschiedene Menschen da in ihren Sesseln schlafen, Frauen, Männer, Junge, Alte, Kinder. Sie sind einander fremd und merken nicht, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Falls das Flugzeug abstürzt, sterben sie alle im gleichen Augenblick und sind bis in alle Ewigkeit verbunden. Die alte Frau dort vorne, ihr Enkel, der sich im Schlaf an sie geschmiegt hat, die Geschäftsleute in der Businessclass, die Piloten,

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