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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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lassen.
    Während der Mercedes weiter rückwärts fuhr, sah ich durch die Windschutzscheibe dem Professor nach, der sich durch starken Gegenwind zum Meer vorkämpfte.
    Als wir über den Hügel waren, blieb Süleyman stehen. Der Professor und das Meer waren von dort nicht mehr zu sehen. Ich stieg aus und ging die paar Schritte zurück auf die Hügelkuppe. Der Wind blies dort so fest, dass ich kaum atmen konnte.
    Der Professor ging direkt auf das Meer zu. Am Ufer blieb er stehen. Dort konnte er gut und gerne von einer großen Welle erwischt werden. Vor dem grauen Hintergrund nahm er sich mit seinem schwarzen Mantel und seinem Hut recht sonderbar aus. Den Geigenkasten stellte er schließlich auf dem Sandboden ab, den Kranz behielt er in der Hand. Dann ging er noch ein paar Schritte weiter, beugte sich vor, und als er sich wieder aufrichtete, hatte er den Kranz nicht mehr; er musste ihn also dem Meer überlassen haben.
    Dann wandte er sich um, hielt sogleich inne, vermutlich, weil er mich erblickt hatte. Ich wollte sowieso wegen des Verrückten nicht meine Gesundheit riskieren und ging zum Auto zurück.
    Süleyman stand an den Mercedes gelehnt und rauchte eine Zigarette. Ich versuchte mich an der Motorhaube ein wenig aufzuwärmen.
    »Was macht er dort?«, fragte Süleyman.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und zuckte nur mit den Schultern. Die Wärme des Motors tat mir gut. So standen wir eine Weile da.
    Als ich wieder einsteigen wollte, warf Süleyman gerade seine Zigarettenkippe weg und ging auf die Hügelkuppe zu. Da ging ich ihm lieber hinterher, denn wer weiß, was er vorhatte.
    Oben angekommen stützte Süleyman kopfschüttelnd die Hände in die Hüften, wie jemand, der ein unglaubliches Schauspiel vor Augen hat. Kurz darauf sah ich, was ihn so erstaunte, aber mich selber überraschte gar nichts mehr.
    Vor dem Grau in Grau von Himmel und Meer, von dem sich nur die weiße Gischt abhob, stand der Professor und spielte Geige.
    Süleyman hob resiginiert die Hände und stieß einen Fluch aus. Dann ging er zurück zum Auto. Ich aber stieg zum Meer hinab.
    Als ich etwas mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, blieb ich stehen. Von dort war die Musik schon zu vernehmen. Um sie noch besser zu hören, ging ich weiter, bis ich nur mehr an die fünfzehn Meter von Wagner entfernt war.
    Er spielte eine schöne, liebliche Melodie. Ein wenig erinnerte sie an Schuberts »Serenade«. Da der Wind auf mich zuwehte, hörte ich die Musik trotz der donnernden Wellen ziemlich gut.
    Ich dachte gerade, dass ich wohl mein ganzes Leben lang nichts Seltsameres gesehen hatte, als ich hinter mir den Mercedes hörte, der wieder heruntergefahren war und nun röchelnd verstummte. Süleyman stieg aus.
    »Warum haben Sie den Motor wieder ausgemacht?«, fragte ich ihn.
    »Habe ich gar nicht, er ist abgestorben«, erwiderte er. »Ich warte jetzt erst mal, bis der Motor sich abgekühlt hat, sonst hat es mit dem Starten keinen Sinn.«
    Die Melodie brach auf einmal ab. Der Professor schickte noch ein paar unsichere Noten hinterdrein, als ob er nicht weiterwüsste, dann hörte er ganz auf.
    Süleyman verzog das Gesicht. Wieder fluchte er und schertesich nicht mehr darum, ob der Professor ihn hörte oder nicht. Dann stieg er wieder ein.
    Nach einer Weile fing der Professor wieder zu spielen an. Flüssig ging es dahin, bis er an die Stelle kam, an der er erneut abbrach.
    Ich hielt es nicht mehr aus vor lauter Kälte und stieg wieder ins Auto. Dort war es zwar auch nicht gerade warm, aber gegenüber draußen war es paradiesisch.
    Nach einer Weile fielen auf die Windschutzscheibe Schneeflocken. Ganz harmlos fing es an, doch binnen kurzer Zeit herrschte ein wahrer Schneesturm. Auch im Auto war es jetzt bitterkalt.
    Der verrückte Mensch spielte draußen am Strand noch immer auf seiner Geige. Ich überlegte schon, was ich für Scherereien bekommen würde, falls er die Kälte nicht überleben sollte. Zur Verantwortung würde man doch mich ziehen.
    Ich stieg aus, band mir den Schal um den Kopf und hielt mir ein Ende vor den Mund. Während ich gegen den Schneesturm ankämpfte, versank ich mit meinen Absätzen immer wieder im Sand.
    Als ich beim Professor ankam, erschrak ich. Sein Gesicht war ganz violett und sah furchtbar aus, wie das einer Leiche. Die Lippen waren blutleer, aus den Augen flossen ihm Tränen, und seine Wangen wirkten wie vereist. Knochenweiß umklammerten seine Finger den Geigenhals. Hätte er dort nicht gestanden, sondern

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