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Serenade für Nadja

Serenade für Nadja

Titel: Serenade für Nadja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livanelli
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deiner Großmutter nur in den Mund gelegt. Wie aber war ich auf diese Gewölbe gekommen?
    Was sie im Traum zuletzt gesagt hatte, stammte aber wirklich von ihr, denn es war ein Spruch, den sie zu Lebzeiten oft wiederholt hatte: »Dir werden Leute begegnen, die dir Böses wollen, aber auch solche, die dir Gutes wollen. Manche haben ein finsteres Herz, andere ein leuchtend helles. Die Menschen sind wie Tag und Nacht. Denke nicht, dass die Welt nur voll böser Menschen ist, aber meine auch nicht, dass alle gut sind, sonst wirst du enttäuscht. Drum hüte dich vor den Menschen.«
    Noch kurz vor ihrem Tod hatte sie mir das auch gesagt.
    Eines Nachts hatte ich gehört, dass sie seltsame Geräusche von sich gab, und war angstvoll zu ihr gegangen. Ich war damals Literaturstudentin,mein Bruder hatte die Militärakademie absolviert und war Offizier.
    Meine Großmutter bekam nicht genug Luft, wand sich röchelnd in ihrem Bett und drückte mir die Hand so fest, dass ich es kaum aushielt. Wir holten den Arzt, der im Untergeschoss wohnte. Er verabreichte meiner Großmutter eine Beruhigungsspritze, maß ihr den Blutdruck und schärfte uns dann ein, sie am nächsten Tag gleich ins Krankenhaus zu bringen.
    Am Morgen war sie dann bleich und übermüdet, atmete aber regelmäßig. Ich stützte sie, um sie die Treppe hinunterzuführen. Bevor wir die Wohnung verließen, sah sie sich traurig darin um, als würde sie nie dorthin zurückkehren. So wie es dann auch geschah.
    Wegen der Offizierskarriere meines Bruders wurde sie in einem Militärkrankenhaus behandelt und bekam dort ein kleines Einzelzimmer. Es wurde ein EKG durchgeführt und Blut abgenommen, dann wurde meine Großmutter einstweilen in Ruhe gelassen. Meine Eltern und mein Bruder verabschiedeten sich, ich allein blieb bei ihr zurück.
    Gegen Abend kam, gefolgt von Assistenzärzten, ein Oberarzt, ein Mann mit buschigen Augenbrauen und von imposantem Auftreten, der meiner Großmutter geduldig auseinandersetzte, dass bei ihr eine behandelbare Gefäßerkrankung vorliege.
    Und dann kam es zu jener Szene, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Um herauszubekommen, ob vielleicht eine genetische Veranlagung vorlag, stellte der Arzt meiner Großmutter eine im Grunde ganz einfache Frage.
    »Woran sind Ihre Eltern gestorben?«
    Meine Großmutter gab keine Antwort.
    Der Arzt meinte, sie habe ihn lediglich nicht verstanden und wiederholte etwas lauter: »Ihre Eltern, woran sind die gestorben?«
    Als meine Großmutter weiter schwieg, entstand eine seltsame Stimmung im Raum. Diesmal sagte ich: »Oma, jetzt gib doch dem Doktor Antwort!«
    Sie aber sah mich nur gequält an und fing an zu weinen. Der Arzt schüttelte missbilligend den Kopf.
    »Warum weinen Sie? Sind Ihre Eltern etwa erst vor kurzem gestorben?«
    Diese Worte des Arztes habe ich nie vergessen. Ganz unbewusst hatte der Mann eine tiefe Wahrheit ausgesprochen. Wie ich später erst so richtig begreifen sollte, bleibt so mancher Tod auf immer ganz frisch.
    Im Zimmer war jetzt nur noch das Schluchzen meiner Großmutter zu hören. Der Arzt versuchte sich zu beherrschen und sagte schließlich in halb verständnisvollem, halb drohendem Ton: »Also, jetzt sagen Sie endlich: Woran sind Ihre Eltern gestorben?«
    Da sagte meine Großmutter nach einer kurzen Pause vorwurfsvoll: »Sie sind an keiner Krankheit gestorben.«
    Wir sahen sie alle an, als sei sie verrückt geworden. Sie aber wirkte zwar mitgenommen und verweint, aber keineswegs wie jemand, der den Verstand verloren hat.
    »Was meinen Sie damit?«, fragte der Arzt.
    Da leuchteten ihre Augen schmerzlich auf, als ergriffen in dem bleichen Gesicht nun plötzlich sie das Wort.
    »Als sie noch viel zu jung waren, um an einer Krankheit zu sterben, sind sie umgebracht worden.«
    Der Doktor starrte sie an, und als er sich wieder gefasst hatte, sagte er in zurückhaltenderem Ton: »Tja, das hat dann mit unserem Fall hier nichts zu tun. Mir kam es nur auf die Sache mit der Veranlagung an.«
    Darauf erwiderte meine Großmutter etwas, das mir nach all den Jahren noch in den Ohren klingt. Sie sagte es aber nicht zu dem Arzt, sondern redete eher mit sich selbst, den Blick zur Zimmerdecke gewandt.
    »Wenn Sie schon unbedingt eine Krankheit suchen, dann sind meine Eltern an menschlicher Grausamkeit gestorben.«
    Der Arzt wollte noch etwas erwidern, dann aber ließ er es und ging schweigend hinaus. Seine Assistenten folgten ihm und schlossen die Tür.
    Als ich mit meiner Großmutter alleine war,

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