Serenade für Nadja
beugte ich mich zu ihr und umarmte sie. Sie weinte wieder schluchzend. Ich sagtenichts, sondern verharrte an ihren schmalen Schultern, meine Wange an ihre Wange gedrückt. Ob meine Wange dabei von ihrem Weinen feucht war oder ob ich mitweinte, wusste ich nicht.
Ich hatte nichts begriffen, wollte aber auch keine Fragen stellen. Wichtig war jetzt nicht, dass ich meine Neugier stillte, sondern dass ich bei meiner Großmutter war und sie das auch spürte.
Schließlich hörte ich sie flüstern: »Ich werde dir alles erzählen. Alles das, was ich bisher niemandem gesagt habe.«
Wortlos ergriff ich ihre Hand. Und nach einer Weile begann sie mit erstickter Stimme zu erzählen.
Ich konnte fast nicht glauben, was ich da hörte. Wie hatte nur eine einzelne Frau so viel Leid ertragen können. Es war ein Schock zu erfahren, dass meine Großmutter, die ich so gut zu kennen glaubte, im Grunde ein ganz anderer Mensch war.
Sie stammte aus Eğin im Osten der Türkei, aus einer wohlhabenden Familie, die in einem großen Haus wohnte. Sie hatte mehrere Geschwister und konnte sich an einen Großvater erinnern, der Geige spielte. Als sie sechs Jahre alt war, kamen Soldaten und holten ihre Eltern, ihren Großvater und ihre Tanten und Onkel ab.
Sie waren Armenier, und alle Armenier wurden damals deportiert. Sobald das bekannt wurde, brachte die Mutter sie und und ihre Geschwister in die Obhut muslimischer Nachbarn. Man erzählte sich nämlich, während der Deportationen käme es zu Überfällen von Banden, Frauen würden die Brüste abgeschnitten, Mädchen würden vergewaltigt, und man habe auch Hände abgehackt, um an goldene Armbänder zu gelangen.
In den muslimischen Familien, die zum Teil arm waren und selbst nur mühsam alle Mäuler stopfen konnten, erging es ihnen gut. Die Familien hatten die Sorge um die armenischen Kinder ohne Zögern auf sich genommen, obwohl es verboten war.
Vom Fenster aus mussten die armenischen Kinder mit ansehen, wie ihre Eltern und all ihre Verwandten verschleppt wurden.
Mit der Zeit aber wurde es für die Familien zu gefährlich, armenische Kinder bei sich zu behalten, und sie sahen sich gezwungen, die Kinder dem Staat zu übergeben, der sie daraufhinin Waisenhäusern unterbrachte. Unter dem Namen Semahat kam die kleine Mari in ein Waisenhaus in Istanbul.
Wie nach einer großen Anstrengung musste meine Großmutter tief Luft holen.
»Was ist aus deinen Geschwistern geworden, Oma?«
»Von denen habe ich nie wieder etwas gehört. Wer weiß, wohin es sie verschlagen hat.«
»Und woher weißt du, dass deine Eltern umgebracht worden sind?«
»Ich bin Jahre später einmal nach Eğin gefahren und habe die Familie gefunden, die uns damals beschützte. Gemeinsam haben wir viele Tränen vergossen. Sie haben mir berichtet, dass der Konvoi, in dem sich meine Eltern befanden, gleich am Ortsausgang an einer Brücke massakriert wurde und man die Leichen in den Fluss warf. Es soll niemand überlebt haben. Sowieso war Krieg, und auf den verschneiten Straßen wurden von Banditen Hinterhalte gelegt. Den aus Hunderten von Menschen bestehenden Konvois wurden jeweils nur wenige Bewacher mitgegeben, die gegen Räuberbanden nichts ausrichten konnten. Solchen Bestien sind meine Eltern zum Opfer gefallen.«
Ich hielt ihr wieder die Hand. Wortlos teilten wir den Schmerz, von dem ich gerade erst erfahren hatte, während er in ihr all die Jahre über lebendig geblieben war. Meine Großmutter nahm ihre ganze Kraft zusammen, um weiterzureden, und ihre Stimme klang nun sogar kräftiger.
»Diese Bestien, also die Banditen, habe ich irgendwie nie als die eigentlichen Schuldigen gesehen. Vielleicht, weil ich sie nie kennengelernt und auch erst von ihnen erfahren habe, als ich schon groß war. Die eigentlichen Schuldigen sind für mich die Leute in der Regierung, die diese Deportationen beschlossen haben, also Enver Paşa und seine Helfer. Denen habe ich nie vergeben, und mein Hass auf sie hat nie abgenommen. Und die haben sich Muslime geschimpft! Hoffentlich kommt es wirklich so, wie sie das glauben, und ich werde im Jenseits gefragt, ob ich ihnen vergebe, denn dann schreie ich heraus: Nie und nimmer!«
»Kannst du dich an deine Eltern noch erinnern?«, fragte ich.
»Und ob ich mich an sie erinnere. An ihre Gesichter zwar nicht, ich habe ja auch kein einziges Foto von ihnen. Aber auf eine andere, ganze besondere Weise habe ich sie noch sehr gut in Erinnerung.«
Sie erzählte dann, dass eines Tages eine Istanbuler Familie sie
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