Serenade für Nadja
Macht und verfügte ein Gesetz …«
»Über das Berufsbeamtentum«, warf ich ein.
»Woher wissen Sie das?«
»Wie gesagt, ich habe mich eingelesen. Aber erzählen Sie weiter.«
»Es war ein furchtbarer Schlag, den wir so nicht erwartet hatten. Alle jüdischstämmigen Dozenten mussten ihre Anstellung an der Universität aufgeben, und auch der Druck auf die jüdischen Studenten nahm immer mehr zu. Nazi-Studenten übten an der Universität Terror aus. Nadja ließ sich zunächst nicht abschrecken und kam weiter in den Unterricht, aber eines Tages musste ich mit ansehen, wie sie im Park der Universität von Nazis geschlagen wurde. Ich schritt sofort ein.«
»Es war ja schon vorher so viel Schlimmes geschehen«, sagte ich, »der Boykott der jüdischen Geschäfte zum Beispiel.«
Ich spielte mich auf mit meinem Wissen. Eigentlich wollte ich aber, so neugierig wie ich war, die Geschichte noch ein wenig hinauszögern, um bereit dafür zu sein.
»Ja, genau. Der Judenboykott war die erste Barbarei des neuen Regimes und ermunterte die Nazis dazu, bald noch weiter zu gehen. Auch in die Schneiderei von Nadjas Vater kamen sie und verprügelten den armen Mann.«
»Warum hat denn das deutsche Volk diesen Grausamkeiten nicht Einhalt geboten?«
Max lächelte. »Sie haben doch das Buch von Ernst Hirsch gelesen. Hirsch hat dem deutschen Volk nie verziehen, weil es sich damals nicht eingemischt hat, aber ich finde, dass er damit nicht recht hat.«
»Warum?«
»Weil das Volk nur tätig werden kann, wenn es irgendwie organisiert ist. Einzelne Menschen lassen sich leicht einschüchtern, das ist immer und überall so. Das deutsche Volk als solches hatte keine Handhabe. Parteien und andere Institutionen trifft dagegen natürlich eine Schuld.«
»Ich begreife das trotzdem nicht. Wie können die Leute einfach mit ansehen, wie ihre Nachbarn misshandelt werden?«
Max sah mir in die Augen.
»Denken Sie doch an das Pogrom, das hier 1955 stattgefunden hat, in genau diesem Viertel, in Pera. Sind da nicht alle griechischenGeschäfte geplündert worden, und haben nicht wildgewordene Gruppen Jagd auf alle gemacht, die nicht Türken und Muslime waren? War das nicht eine regelrechte Lynchaktion?«
»Natürlich.«
»Und haben die Leute irgendetwas dagegen getan?«
»Meines Wissens nach nicht. Einige Griechen und Armenier sind aber von ihren türkischen Nachbarn gerettet worden.«
»Das waren Einzeltaten besonders mutiger Menschen.«
»Gewiss.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte hier keineswegs das türkische Volk beschuldigen oder die Geschehnisse hier mit der Barbarei der Nazis vergleichen. In der Geschichte jedes Landes kommen solche Dinge vor, und das einfache Volk kann dagegen nie etwas ausrichten. Jede Macht tötet, die eine mehr, die andere weniger.«
»Ja, mag sein, Herr Professor. Aber kommen wir zu Ihrer Geschichte zurück.«
»Das mit dem Herrn Professor wollten wir doch bleibenlassen.«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Ist mir herausgerutscht, Max. Erzählen Sie bitte weiter.«
Scherzhaft drohend hob er den Zeigefinger.
»Dass mir das nicht noch einmal vorkommt!«
Ich lachte. Nun war ich entspannter und bereit, ihm zu lauschen.
»Wir waren bei dem Tag stehengeblieben«, sagte ich, »an dem Nadja im Park der Uni geschlagen wurde. Was ist dann passiert?«
Er gab erst keine Antwort, sondern starrte auf einen Punkt auf der Tischdecke. So verharrte er eine ganze Weile. Dann begann er mit monotoner Stimme zu sprechen.
Die Ober kamen und gingen, schenkten uns Wein nach und wechselten das Besteck. Manchmal ließ der Professor sich davon nicht stören und erzählte einfach weiter, manchmal hielt er inne, wartete ab, bis die Ober fertig waren, trank einen Schluck Wein, sagte auch mal einen Satz zu einem ganz anderen Thema. Dann starrte er wieder auf den einen Punkt und erzählte weiter, wo er stehengeblieben war.
An manchen Stellen konnte ich ihm nicht mehr zuhören. Dann hätte ich am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen und geweint oder wäre aufgesprungen. Ich bemühte mich aber, möglichst ruhig sitzen zu bleiben und den Professor nicht mit irgendwelchen Gesten zu stören.
Irgendwann konnte ich nicht mehr und musste aufstehen. Ich hatte Tränen in den Augen und ging wortlos zur Toilette, weil ich nicht die Kraft aufbrachte, etwas zu sagen.
Als ich zurückkam, saß der Professor nicht mehr am Tisch. Panisch sah ich nach dem Aufnahmegerät, das aber noch immer vor sich hinblinkte.
Nach einer
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