Serenade für Nadja
Weile kehrte er zurück. Er machte einen ausgeruhteren Eindruck. Das Erzählen schien ihm Erleichterung zu verschaffen.
»Entschuldigen Sie, Max, ich habe Sie unterbrochen.«
Mit einer Stimme, als habe er schon alles Leid der Welt erlebt, erwiderte er: »Das macht nichts. Es war gut, dass wir eine Pause eingelegt haben.«
So streckten wir die Pause noch, ließen den Tisch abräumen und etwas Obst servieren. Dann richtete der Professor wieder den Blick auf jenen Punkt und fuhr im gleichen Tonfall mit dem Erzählen fort. Manchmal kniff er die Augen zusammen, und sein Gesicht verzog sich schmerzlich, dann aber leuchtete es wieder hoffnungsvoll aus seinen Augen, die dann aussahen wie zwei der vielen schummrigen Lichter im Pera Palace . Ihm war deutlich anzusehen, durch was für ein Wechselbad der Gefühle ihn die Geschichte führte.
Ich fühlte, wie gut es ihm tat, all die Last, die sich in seinem Herzen angesammelt hatte, mit jemandem zu teilen.
Je mehr das Restaurant sich leerte, umso deutlicher war seine Stimme zu vernehmen. Schließlich standen nur noch verschlafen die Ober herum und sehnten sich deutlich danach, dass auch die letzten Gäste gingen.
Sanft legte ich meine Hand auf die Hand des Professors, doch er sprach unbeirrt weiter. Irgendwann hob er den Kopf und sah mich an.
»Ich möchte ja nicht drängen«, sagte ich zu ihm, »aber ich glaube, wir müssen gehen, Max. Es ist niemand mehr da außer uns.«
Entrückt sah er sich um.
»Natürlich«, sagte er dann. Er winkte nach der Rechnung, die der Oberkellner ohnehin schon in der Hand hatte.
Dann gingen wir in die Lobby hinaus.
»Ich möchte unbedingt das Ende Ihrer Geschichte hören, Max. Die Hotelbar macht bald zu, aber wir könnten draußen in eine Kneipe gehen, was meinen Sie?«
»Nein, um diese Zeit möchte ich nicht mehr hinaus, aber kommen Sie doch mit in mein Zimmer. Ich kann Ihnen etwas aus der Minibar anbieten.«
Kerem übernachtete sowieso bei seinem Vater, so dass ich nicht zu einer bestimmten Zeit nach Hause kommen musste. Und ich war begierig darauf, ihm weiter zuzuhören.
Wir stiegen in den berühmten altehrwürdigen Aufzug des Hotels und fuhren unter den Augen des Nachtportiers nach oben. Im Zimmer ließen wir uns in den bequemen Sesseln nieder, und Max holte aus der Minibar Cognac.
»Ich könnte Ihnen jetzt von meinem Leben in Istanbul berichten, von der Universität und meinen Kollegen dort, aber ich merke schon, dass das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist.«
»Da haben Sie recht. Erzählen Sie mir jetzt bitte von Nadja. Haben Sie sie wiedergefunden?«
Er nickte.
»Gut.«
Schweigend sahen wir uns an und tranken unseren Cognac. Max war mit seinem Bericht am Ende der dreißiger Jahre angelangt. Als er nun wieder anhob zu erzählen, musste ich an meine arme tatarische Großmutter denken, deren Unglück zur gleichen Zeit seinen Lauf genommen hatte.
Um wieder so fließend berichten zu können wie unten im Restaurant, schien der Professor einen Anlauf zu brauchen. Er setzte sich im Sessel so bequem wie möglich zurecht, wie jemand, der sich auf eine lange Reise einstellt, und schnitt zunächst ein paarunverfängliche Themen an. Als wir unsere Gläser ein zweites Mal füllten, genügte der Inhalt der kleinen Flasche schon nicht mehr, und als wäre er froh um diesen Aufschub, stand er auf und bestellte am Telefon eine Flasche Martell. Während wir auf diese warteten, saßen wir schweigend da, und die Spannung wurde allmählich unerträglich. Endlich wurde die Flasche gebracht, Max schenkte uns ein und begann dann auf seine monotone Art zu erzählen. Gleichzeitig drückte ich auf den Knopf des Aufnahmegeräts, das wieder losblinkte.
Eine Weile hörte ich reglos zu, dann aber verspürte ich gleichsam den Wunsch, in das Geschehen, von dem ich vernahm, selber einzugreifen, und ich musste aufstehen und wenigstens im Zimmer herumgehen. Natürlich ließ sich nach sechzig Jahren nichts mehr ändern, aber dennoch war es nicht leicht, das alles hinzunehmen.
Da ich ohnehin später alles vom Band hören würde, machte ich mir keine Sorgen, etwas zu verpassen. Es kam mir sogar zupass, meine Gedanken ab und an schweifen zu lassen.
Ich dachte an meine eigene Zeit, an die Menschen in meinem Umfeld. So Fürchterliches erlebten wir derzeit zwar nicht, aber es gab genug Leute, die anscheinend Tag und Nacht überlegten, wie sie anderen das Leben unerträglicher machen und sie ins Unglück stürzen konnten. Nur gut, dass das nicht immer so
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