Serenade für Nadja
noch nicht übersetzt worden.«
»Bei Mimesis handelt es sich um eines der bedeutendsten Werke der Literaturkritik, und es wurde hier in Istanbul an Ihrer Universität verfasst. Sobald ich zurück in Boston bin, schicke ich Ihnen die englische Fassung.«
»Eine englische gibt es also?«
»Selbstverständlich. Und viel Sekundärliteratur dazu. Erich hat später Einladungen an amerikanische Universitäten bekommen und lehrte bis zu seinem Tod in Yale. Die englischsprachige Ausgabe von Mimesis wurde 1953 von der Universität Princeton veröffentlicht.«
»Die Amerikaner haben also die Lage erkannt und viele von Ihnen zu sich geholt.«
»Mein Fall ist etwas anders gelagert. Für Sie habe ich jetzt aber einen wichtigen Auftrag.«
»Was für einen?«
»Ich möchte, dass Sie Mimesis ins Türkische übersetzen, damit das Buch dorthin zurückkehrt, wo es geschrieben wurde.«
Das war ein Einfall, der mir auf Anhieb zusagte. Irgendwie schaffte Max es mit jedem Satz, mich zu inspirieren und in mein Leben Farbe zu bringen.
»Gerne mach ich das. Wunderbar.«
»Erst wenn Sie das Buch gelesen haben, werden Sie merken, was für eine bedeutende Aufgabe Ihnen da zufällt. Sie haben dieChance, Ihrem Land einen historischen Dienst zu erweisen. Also, versprechen Sie mir, dass Sie das Buch übersetzen?«
»Ich verspreche es. Aber verraten Sie mir doch bitte, warum das Buch so wichtig ist.«
»In kurzen Worten kann ich das nicht.«
»Dann tun Sie es in langen Worten.«
Er schmunzelte.
»Liebe junge Frau, soll das ein gemeinsames Dinner werden oder eine Unterrichtsstunde?«
»Damit das Essen noch unterhaltsamer wird, bitte ich um ein intellektuelles Gespräch mit einem bedeutenden Professor, der morgen leider weg muss.«
»Nun gut, um Ihnen noch mehr Lust auf die Übersetzung zu machen, will ich versuchen, Ihnen die Sache kurz zu erläutern. Erich Auerbach und sein Kollege Leo Spitzer bemühten sich, den Begriff der Weltliteratur zu systematisieren. Der Begriff selbst wurde schon von Goethe verwendet, der damit weniger die von verschiedenen Kulturen hervorgebrachten Literaturen, als vielmehr eine von der Welt als solcher geschaffene Literatur meinte. Mimesis ist eine großangelegte literarische Studie, die von der Thora und von Homer ausgeht, also den beiden Grundpfeilern der abendländischen Literatur, und sich bis hin zu Proust und Virginia Woolf erstreckt. Doch wie der vollständige Titel des Werkes, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur , schon besagt, wurde östliche Literatur dabei ausgespart.«
»Moment mal, da komme ich nicht ganz mit. In dem Buch soll es um Weltliteratur gehen, es wird in Istanbul geschrieben, aber der ganze Orient kommt darin nicht vor?«
»Man darf dem Mann nicht unrecht tun. Erich hatte nun mal die westliche Literatur im Blick, und zudem konnte er in Istanbul nur auf wenige Quellen zurückgreifen, worüber er auch ständig klagte.«
»Hätte Auerbach sich in Istanbul mit den reichen Quellen beschäftigt, die es hier für orientalische Literatur gibt, dann hätte er wie Goethe auf Weltliteratur stoßen können, aber statt auf Weltliteraturkam es ihm wohl nur auf Westliteratur an. Trotzdem freue ich mich auf das Buch und möchte es gern übersetzen.«
»Ihre Gedanken dazu könnten Sie ja in einem Vorwort darstellen.«
»Gut.«
»Interessant können für Sie auch Erichs Briefe sein, denn er berichtet darin von Ihrem Land, von den ersten Jahren der türkischen Republik und von Atatürk.«
»Können Sie sich erinnern, was er über Atatürk schreibt? Bei uns wird nämlich derzeit heftig darüber diskutiert, ob er auch ein Diktator wie viele andere damals war.«
»Als Diktator hat Auerbach ihn gewiss nicht eingestuft. Er beschreibt ihn als witzigen, intelligenten und fröhlichen Menschen. In seinen Briefen an Walter Benjamin klagt er jedoch darüber, dass die junge Republik allzu viel Eifer an den Tag legte, um vom Islam und den alten Traditionen wegzukommen. Einmal spricht er vom ›salzigen Brot der Fremde‹. Damit bezieht er sich auf den 17. Gesang von Dantes Göttlicher Komödie, wo es heißt: ›Und du wirst erfahren, wie das salzige Brot der Fremde schmeckt und wie steil die Stufen dort sind.‹«
»Das salzige Brot?«
»Auerbach spielt damit auf das salzige Brot an, das der Prophet Jesaja während des Babylonischen Exils mit dem Volk aß, und zugleich auf sein eigenes Exildasein. Allein wie Auerbach vom Alten Testament zu Dante und von dort wieder zu
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