Serenade für Nadja
einigermaßen zu mir. Vom langen Wachen, vom Alkohol und vom Weinen hatte ich Ringe unter den Augen und ein aufgedunsenes Gesicht, so dass ich mir mit kaltem Wasser kurz eine Kompresse auflegte, um Max nicht so einen hässlichen Anblick zu bieten.
Wir bestellten Frühstück aufs Zimmer und tranken unseren Kaffee mit Blick auf das Goldene Horn. Dann packten wir seinen Koffer. Lächelnd band er sich das lilafarbene Halstuch um. Dann holte er aus einem Kofferfach einen Umschlag und reichte ihn mir.
»Das ist der Brief, von dem ich gestern gesprochen habe.«
Als ich ihn las, konnte ich ein Schluchzen nicht unterdrücken. Da Max mir den Rücken zuwandte, konnte er nicht sehen, wie meine Augen sich mit Tränen füllten, aber ich konnte trotzdem eine Weile nicht weiterlesen. Warum drehte er sich nicht um? Verbarg auch er seine Augen vor mir? Schließlich ging er ins Bad, obwohl er dort gerade erst gewesen war.
Hastig schrieb ich den Brief ab. Als ich gerade fertig war, kam Max wieder aus dem Bad. Ich gab ihm den Brief zurück, und er verwahrte ihn wieder im Koffer. Die Kopie faltete ich zusammen und steckte sie ein. Sanft fuhr ich mit der Hand über die Tasche.
»Ich werde gut darauf aufpassen, Max.«
Er lächelte. Schweigend saßen wir dann noch ein wenig im Zimmer, dann gingen wir hinunter. Max hatte den Geigenkoffer in der Hand und beglich die Hotelrechnung. Ein Portier brachte den Koffer und übergab ihn İlyas.
Auf der Fahrt zum Flughafen durch den ruhigen Sonntagsverkehr sprachen wir ebenfalls nicht.
Als ich mich am Terminal von Max verabschiedete, küsste er mich auf die Wange und sagte leise: »Danke. Für alles.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er davon, mit seinem schwarzen Mantel, dem Hut, der Geige und dem lilafarbenen Halstuch.
14
Als er fort war, wurde ich von einer namenlosen Leere erfasst. Die Welt war nicht mehr die gleiche. Dass die Menschen um mich herum sich mit ihrem Gepäck abhasteten, um von einer Stadt in die andere zu kommen, von einem Land in das nächste, wirkte auf mich wie sinnlose Zappelei.
Während İlyas mich nach Hause fuhr, sah ich von der Rückbank des Autos aus dem Fenster. All die Leute, die da draußen vor sich hinlebten, ohne voneinander zu wissen, jeder mit seinem eigenen Ziel, seinen eigenen Sorgen. Keiner kannte die Geschichte des anderen.
Zu Hause ließ ich mich in einen Sessel fallen. Aus meiner Tasche kramte ich das Aufnahmegerät hervor, das alles enthielt, was Max mir bis zum Morgen erzählt hatte. Wie ein kleiner Schatz lag es in der Hand.
Innerhalb weniger Tage hatte ich ungeheuer viel gelernt. Unglaublich, was vor wenigen Generationen auf diesem Boden alles geschehen war. Dinge, die sich vor sechzig Jahren ereignet hatten, kamen mir nun ganz vertraut vor. Und dabei war noch so vieles zu entdecken. Doch sollte es mir auch gelingen, mir all die Informationen, nach denen ich jetzt verlangte, tatsächlich zu beschaffen, so hätten sie für sich genommen keine Bedeutung, so viel war klar.
Was sollte es bringen, wenn ich wusste, was meine Großmütter durchgemacht hatten oder was vor hundert, vor sechshundert Jahren alles geschehen war? Was hatte ich davon, wenn ich erfuhr, was der Professor, was Nadja, was so manche andere Menschen, die in der Erzählung des Professors vorgekommen waren, vor Jahr und Tag in dieser Stadt erlebt hatten? Eine Bedeutung erlangte das alles erst, wenn es sich zur Geschichte jener Menschen formte.
Die am Flughafen Herumhetzenden, die gestressten Verkehrsteilnehmer, die dicken Frauen an der Uni, die Leute in den Geschäften, an ihnen allen konnte mich nur das eine interessieren: wiederum die Geschichten nämlich, die das Leben mit ihnen schrieb.
Die Geschichte jedes einzelnen Menschen konnte uns so sehr interessieren wie das, was uns selber widerfuhr; sie musste lediglich in ihrer ureigenen Wirklichkeit erfasst werden. Denn war nicht jede Geschichte letztendlich die Geschichte der menschlichen Existenz? Und damit des ganzen Lebens?
Wieder sah ich auf das kleine Gerät in meiner Hand. Ich musste die Batterie wechseln und mir dann alles anhören. Und zwar immer wieder. Und dann musste ich die Geschichte erzählen, musste sie aufschreiben. Nicht unbedingt in all ihren Details. Wo erforderlich, durfte ich sie etwas anders erzählen als der Professor. Die Geschichte eines einzelnen Menschen musste ich so erzählen wie die Geschichte aller Menschen.
Erst aber musste ich mich ausruhen, mich von diesen anstrengenden Tagen erholen und
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