Serenade für Nadja
gut gelang wie zur Jugendzeit von Max.
Seine Stimme klang immer brüchiger und setzte schließlich ganz aus. Er war weiß im Gesicht, seine Hände zitterten.
»Jetzt sind Sie aber sehr müde«, sagte ich. »Sie sind fast fertig mit Ihrer Geschichte, ja? Dann gehe ich, und Sie können sich ausruhen.«
Zu meiner Verblüffung erwiderte er: »Fast fertig? Die eigentliche Geschichte beginnt jetzt erst.«
»Dann legen Sie sich wenigstens ins Bett. Falls Sie wach bleiben, erzählen Sie einfach weiter, und falls Sie einschlafen, können Sie mir den Schluss morgen sagen.«
Erst wehrte er ab, doch bald sah er ein, dass er keine Kraft mehr hatte. So war ich ihm behilflich, seinen Schlafanzug anzuziehenund brachte ihn ins Bett. Er drehte sich auf die Seite, wo ich im Sessel neben ihm saß, und fuhr mit müder Stimme fort zu erzählen.
Zwischen Rumänien, Deutschland, Istanbul und Ankara ging es in der Erzählung hin und her, neue Namen tauchten auf, und ich empfand Aufregung und Schmerz. Dann wurden die Bilder, die mir vor Augen standen, immer unwirklicher und lösten sich schließlich auf. Max war verstummt und lag ruhig schlafend da.
Leise stand ich auf und stellte mich ans Fenster. Eine Weile sah ich auf das Goldene Horn hinab, und auf den dichten Samstagnachtverkehr, der sich über den Tarlabaşı Bulvarı wälzte. Sollte ich nun gehen? Was aber, wenn er bald wieder erwachte und seine Geschichte weitererzählen wollte? In einem plötzlichen Entschluss streifte ich mir die Jacke ab und legte mich zu ihm ins Bett. Genau wie im Black Sea Motel schmiegte ich mich von hinten an ihn. Ich war selbst todmüde. Erst dachte ich, er bemerke mich gar nicht, doch ohne sich zu regen, sagte er auf einmal: »Danke.«
Es ist dunkel im Flugzeug. Da alle Fensterklappen geschlossen sind, weiß man nicht, ob es draußen vielleicht schon hell ist. Ich überlege, dass für die große Mehrheit der heute Lebenden jenes Geschehen, das gerade ein Menschenleben zurückliegt, unendlich weit entfernt ist.
Kann es denn sein, dass so viel Vertreibung, so viel Leid auf die nachfolgenden Generationen gar keine Auswirkung hat? Auch wer zu jener Zeit nicht auf der Welt war, ist doch von Menschen aufgezogen worden, die sie noch erlebt haben. Da schlafen die Leute in dem winzigen Flugzeug am riesigen Himmel. Wenn man sich nicht bewusst ist, wie weit sich die Welt hinter dem Vorhang noch erstreckt, wie dunkel ist dann die Welt!
Um mich herum werden Leute wach, und immer mehr gehen auf die Toilette, meist ältere Männer, die wohl die Prostata plagt. Es ist schon komisch, völlig unbekannte Leute in der Nacht mitzuerleben. Und noch dazu wissen diese Leute nicht, dass ich gerade etwas über sie schreibe.
Würden sie nur meine zuletzt geschriebenen Seiten lesen und somit erfahren, dass ich zu einem älteren Mann ins Bett gestiegen war und mich von hinten an ihn gedrückt hatte, dann würden sie wohl einigermaßen erstaunt sein. Doch würden sie seine Geschichte kennen, sie aus seinem Mund vernehmen, seine eindringliche Stimme hören …
Ich muss dieses Kapitel noch zu Ende bekommen, dann kann ich mich ausruhen.
Ich fragte den Professor, wofür er sich bedankte.
»Weil ich den Rest jetzt leichter erzählen kann.«
»Das ist nicht das erste Mal, dass ich Sie umarme, Max.«
»Ich weiß. Auch dafür danke ich Ihnen. Sie haben mir das Leben gerettet.«
Diesmal waren wir angezogen, aber wie schon beim ersten Mal fühlte ich mich unglaublich geborgen. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und sog seinen angenehmen Duft ein.
Die müde Stimme war in ein Flüstern verfallen.
Im Vertrauen darauf, dass das kleine Gerät hinter mir noch immer blinkte, lauschte ich nur noch auf die Stimme als solche.
Ich drückte mich ganz fest an Max, als wollte ich diesem leidgeprüften Mann damit meine ganze heilende Kraft vermitteln, und im Gedanken an die Katastrophe, die er durchgemacht hatte, schlief ich schließlich ein.
Das Läuten meines Telefons weckte mich wieder. Es war kurz vor Mittag. İlyas war dran und wollte wissen, wann er mich abholen sollte.
»Sie brauchen nicht zu mir nach Hause zu kommen. Treffen wir uns um zwei Uhr im Pera Palace .«
Der Professor lag nicht mehr neben mir und war auch nicht im Zimmer, aber im Bad hörte ich Wasser laufen. Bald danach kam er heraus, in einem weißen Morgenmantel, und lächelte mich an. Er wirkte ausgeruht.
»Sie haben so tief geschlafen«, sagte er. »Ein Privileg der Jugend.«
Ich duschte nun auch und kam wieder
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