Serenade für Nadja
seinem Istanbuler Exil Brücken zu schlagen verstand, zeigt sein tiefes Weltverständnis.«
»Und es zeigt auch, was Sie für eine umfassende Bildung haben, Max. Ich könnte Ihnen tagelang zuhören.«
Er errötete, räusperte sich und lenkte ab, indem er mit mir auf Auerbach und auf die Übersetzung von Mimesis anstieß.
»Stimmt eigentlich, was jener Student geschrieben hatte? Dass ohne Hitler niemand von diesen Leuten hierhergekommen wäre?«
»Leider ja. Die Türkei war uns damals sehr fremd, wir wussten so gut wie nichts über sie, gerade mal, dass nach dem Fall des Osmanischen Reiches eine Republik sich um westlich orientierteReformen bemühte. Auch von der türkischen Sprache wussten wir nichts. Die Wissenschaftler, die hierhergekommen sind, zählten zu den Koryphäen ihres Fachs und genossen weltweites Ansehen.« Er schmunzelte. »Mit Ausnahme von mir. Denken Sie nur, dass es damals in diesem riesigen Land nur eine einzige Medizinfakultät gab, noch dazu eine recht unzulängliche. Atatürk wollte das Land in aller Eile europäisieren, und da kamen ihm die deutschen Professoren gerade recht.«
»Wie war denn die Türkei, als Sie damals angekommen sind?«
»Ich war ja spät dran im Vergleich zu denen, die schon 1933 eingetroffen sind. Anfang 1939 bin ich gekommen, da war die Türkei ein Agrarland mit siebzehn Millionen Einwohnern. Wie viele sind es heute?«
»Siebzig Millionen. Aber hören Sie mal, nach allem, was ich gelesen haben, wurden die Juden nach der Machtergreifung allmählich aus den Universitäten vertrieben, warum sind Sie erst so spät gekommen?«
Allmählich tasteten wir uns an das Thema heran.
»Ganz einfach: Weil ich kein Jude bin. Ich stamme aus einer bürgerlichen katholischen Familie.«
»Und warum sind Sie 1939 dann doch weggegangen?«
»Genau das will ich Ihnen ja erzählen, ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll.«
»Am besten in Ihrer Kindheit und Jugend.«
»Nun gut. Dann müssen Sie aber auf eine lange Geschichte gefasst sein.«
»Das bin ich schon. Nur eine Bitte hätte ich: Dürfte ich aufnehmen, was Sie sagen, zur Erinnerung?«
Er runzelte die Stirn.
»Ich habe nichts damit vor«, sagte ich beschwichtigend. »Ich glaube nur, wenn Sie weg sind, werde ich eine große Leere empfinden, und die möchte ich dadurch füllen, dass ich Bücher über jene Zeit lese und Ihrer Stimme lausche.« Lächelnd fügte ich hinzu: »Und natürlich mit dem Übersetzen von Mimesis .«
Nun lächelte er auch und sagte: »Na gut, nehmen Sie es auf.«
Ich holte das kleine Aufnahmegerät heraus, das ich vorsorglich mitgenommen hatte, und stellte es auf der weißen Tischdecke nahe an den Professor.
Professor Maximilian Wagner begann zu erzählen.
»Ich komme aus einer wohlhabenden Familie, in der man sich sogar rühmte, adeliger Herkunft zu sein. Mein Vater war ein bekannter Richter, meine Mutter eine gute Pianistin. Ich habe eine ausgezeichnete Erziehung genossen und mich mit Latein, Altgriechisch, Philosophie, Literatur, Geschichte und Musik befassen dürfen. In außergewöhnlich jugendlichem Alter wurde ich Universitätsassistent.
Es war eine glückliche, sorglose Zeit. Ich hatte wunderbare Professoren, Kollegen und Studenten, und einmal in der Woche spielte ich in einem Streichquartett die Stücke, die wir alle liebten. Hin und wieder hörten wir von einem ehemaligen Gefreiten namens Adolf, der in Münchner Bierkneipen agitierte und sich mit der Polizei herumschlug, aber der wurde eigentlich nur verspottet, und keiner nahm ihn so richtig ernst.
Schließlich lernte ich Nadja kennen, eine Geschichtsstudentin. Erst dachte ich nur: ›Ein liebes Mädchen.‹ Nach ein paar Tagen wandelte sich das in: ›Sie ist wunderschön‹, und eine Woche später wurde daraus: ›Sie hat herrliche Augen‹, bis ich mir sagte: ›Ihr Gesicht, ihre Augen, ihr ganzer Körper sind wie das Meisterwerk eines Malers.‹ Ich merkte, dass ich auch außerhalb des Unterrichts stundenlang an sie dachte. Schon morgens beim Anziehen und auf dem Weg in die Universität bebte ich bei dem Gedanken, sie wiederzusehen. Ging ich abends ins Bett, dachte ich immer noch an Nadja, und am Wochenende, beim Musizieren, hatte ich auch nur sie im Kopf. Ihre etwas fahrigen und doch feinen Gesten und ihr kindlicher Schmollmund gingen mir nicht aus dem Sinn. Innerhalb eines Monats hatte ich mich unsterblich in sie verliebt, und sie wusste rein gar nichts davon. Inzwischen schrieben wir aber 1934, und Hitler war seit einem Jahr an der
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