Serenade für Nadja
den Rest des Sonntags über nichts mehr tun.
Ich schloss die Augen und dachte zurück an die Zeit, als ich heranwuchs. Sonntage erschienen mir damals so langweilig wie Abwaschwasser. Mein Vater saß vor dem matten Schwarzweißfernseher und regte sich über ein Fußballspiel auf, und meine Mutter stand entweder in der Küche oder löste mit angestrengter Miene ein Kreuzworträtsel. Ich selber wusste nichts mit mir anzufangen. Meist zog ich mich mit einem Roman in mein winziges Zimmer zurück und schlief irgendwann ein. Mein Bruder trieb sich immer draußen herum, während ich nicht gewusst hätte, wo ich hätte hingehen sollen. So blieb ich in der Wohnung, umhüllt von dem Gas- und Essensgeruch, der sich über Jahre hinweg angesammelt hatte.
Nun empfand ich wieder das gleiche Unbehagen wie damals. Alles, was mich in der letzten Woche aus meiner Lethargie gerissen, mich angespornt und inspiriert hatte, war mit Max zusammen verschwunden. Bald würde Ahmet Kerem zurückbringen.Gemeinsam würden wir wieder unseren monotonen Alltag leben, jeden Tag unsere Pflicht erfüllen, uns abends ins Bett legen und am nächsten Morgen aufstehen, um wieder die gleichen Dinge zu tun.
Ich würde wieder an die Uni gehen, essen, schlafen, dann wieder an die Uni gehen, essen, schlafen, an die Uni gehen, essen, schlafen, an die Uni gehen, essen, schlafen, an die Uni gehen, essen, schlafen, an die Uni gehen … Und das womöglich noch dreißig Jahre lang so.
Die gleichen Straßen, die gleichen Menschen, das gleiche Geschwätz.
Um all dem zu entkommen, musste ich mich in die Geschichte des Professors flüchten.
Noch dazu hatte ich diesen Süleyman am Hals. Bestimmt wusste er schon, dass ich die Geige wiederhatte, und war noch wütender auf mich. Dabei war mir immer noch nicht klar, ob er sie versteckt hatte, um sie zu verkaufen oder um sich einfach an mir zu rächen.
Als Kerem nach Hause kam, setzte er sich sofort an den Computer. Ich bat ihn, bald ins Bett zu gehen, weil morgen Schule sei, aber er brummte nur »Ja, ja«, damit ich Ruhe gab.
Ich hatte nicht genug Energie, um ihn vom Computer zu verscheuchen, und schleppte mich einfach ins Bett. Von Schlaf konnte aber keine Rede sein. Nun, ich war ja auch nicht körperlich müde, so dass es ganz normal war, wenn ich noch nicht schlafen konnte.
Beim Hin- und Herwälzen fiel mein Blick wieder auf die Blätter, die auf der Kommode lagen. Resigniert nahm ich sie an mich, war dann aber froh, eine Beschäftigung zu haben. Ich würde eben so lange etwas über jenes rumänische Schiff lesen, bis ich müde genug war, um zu schlafen.
Doch war es alles andere als ein Vergnügen, zu erfahren, wie es auf der vor Istanbul im Meer treibenden Struma zuging:
Auf den beiden Unterdecks hatten die Menschen viel zu wenig Platz zum Schlafen oder auch nur, um sich tagsüber ein wenig zu bewegen. Weder ein Bad noch eine Dusche gab es auf dem Schiff, und selbst für Mütter mit Kleinkindern war es schwierig, an einWaschbecken heranzukommen. Die Menschen mussten in stinkenden Kleidern herumlaufen. Am schlimmsten aber war, dass es für 769 Leute nur eine einzige Toilette gab, vor der man Schlange stehen musste, so dass viele ihre Notdurft ganz einfach auf Deck verrichteten, wo der Boden bald glitschig vor lauter Exkrementen war und ein unerträglicher Gestank herrschte.
Der Gesundheitszustand der Passagiere verschlechterte sich rapide, und die zwanzig Ärzte, die sich unter ihnen befanden, hatten Tag und Nacht mit Fällen von Ruhr zu tun. Da die Medikamente an Bord äußerst knapp waren, konnte an die Kranken viel zu wenig davon ausgegeben werden. Zwei junge Passagiere verloren unter diesen Bedingungen den Verstand.
Schlaf war auf dem Schiff kaum zu finden, und die meisten krochen um vier oder fünf Uhr morgens schon wieder an Deck, wo Eimer mit Meerwasser hochgezogen wurden, damit man sich wenigstens das Gesicht waschen konnte. Wegen Brennstoffmangel wurde nur alle drei Tage Tee gekocht, wozu man die Gemüsekisten verheizte. Zu essen gab es meist nur eine Orange, ein paar Nüsse und ein Stück Zucker. In den Genuss einer warmen Mahlzeit kamen die Passagiere nur selten. Dass einmal Brot ausgegeben wurde, hatte Seltenheitswert. Kinder bekamen am Tag ein halbes Glas Milch aus Milchpulver und einen Keks.
Einflussreiche Juden in der Türkei, in Palästina und in den USA versuchten etwas zu unternehmen. Simon Brod und Rifat Karako, zwei Mitglieder der jüdischen Gemeinde Istanbuls, gaben sich alle Mühe, um die
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