Settlers Creek
etwas wie Vorfreude, sie machen ihm keine Angst. Er meint sie jetzt zu kennen. Mehr als das, irgendwie glaubt er, erst jetzt seinen Platz unter ihnen zu verdienen.
Doch wenn er den Kopf hebt und mit rotgeweinten Augen auf den Friedhof hinunterschaut, ist da nichts als die kalte Nacht und die Konturen der Kirche und der alten Grabsteine.
Schließlich wird der noch immer wartende Box, der nun alle Tränen geweint hat, nur von einem wohlverdienten traumlosen Schlaf heimgesucht.
Achtundzwanzig
Im ersten Halbdunkel vor der Dämmerung wacht Box auf. Noch bevor er die Augen öffnet, riecht er die feuchte Erde des Friedhofs und spürt die Bewegungen der Vögel in den Baumwipfeln. Er weiß genau, wo er ist und was er zu tun hat, bleibt aber noch eine Minute still liegen. Tau hat sich auf der Plane gesammelt wie zitternde Quecksilbertröpfchen. Sein Haar ist feucht. Er hat auf dem Rücken geschlafen, was er sonst nie tut, das Gesicht in den verstärkten Rand des Kunststoffs vergraben.
Um sich auszuwickeln, muß Box sich nach der Seite rollen, dabei aber aufpassen, daß er vom offenen Grab weg rollt. Er stellt sich die schwarze Komödie vor, die folgen würde, wenn er plötzlich auf dem Grund des Grabes zwischen senkrechten Wänden landete: einsachtzig tiefer.
Er streift die Plane ab und steht mühsam auf. Draußen über dem Meer wird die Sonne schon bald den dunklen Horizont durchschneiden. Kurz darauf werden die ersten Strahlen den Kraterrand hinter ihm treffen, das Tussockgras und die dunklen Vulkanfelsen aufleuchten lassen. Box stampft mit den Füßen und schlägt mit dem unverletzten Arm um seinen Leib. Die Bodenfeuchte ist sogar durch die dicke Zeltplane in ihn eingedrungen. Er ist halb erfroren, sein Blut so kalt wie das der Echsen, die Paul und er als Kinder gejagt haben. Wenn er die Zeit hätte, würde er sich nackt auf einen Felsen legen und darauf warten, daß die Sonne sein Blut wärmte. Doch die Zeit hat er nicht. Er muß sich beeilen.
»Ich krieg die gleich ab, keine Sorge. Sie sitzt ganz schön fest.«
Seine steifen Finger ziehen und zerren an dem Gurt, der die Decke an Marks Hals hält. Endlich hat er ihn gelöst und wirft ihn ins Gras, läßt aber die Decke auf Marks Gesicht. Als alle drei Spanngurte ab sind, wickelt er den Leichnam aus.
Zum ersten Mal seit dem Marae sieht er den Jungen. Und erschrickt. Er ist auf die Veränderungen nicht gefaßt gewesen, die Zerstörungen, Verwüstungen, ja, das Wort fällt ihm ein: die Leichenschändung, die ihm angetan wurde. Die er selbst ihm angetan hat. Ein Schluchzen steckt ihm in der Kehle wie ein Stück rohes Fleisch. Er bekommt keine Luft mehr.
»Mark, bitte verzeih mir, es tut mir so entsetzlich leid. Aber jetzt ist es fast vorbei. Nur noch eines muß ich tun.«
Er knöpft Marks schmutziges Hemd auf. Mit ungeschickten Fingern fängt er am obersten Knopf an und ist irgendwann beim untersten. Als er das Hemd öffnet, springt ihm wieder die höckerige Autopsienarbe entgegen. Die Haut ist grau und blutleer, Brust und Bauch sind von dunklen Flecken übersät. Wie diese Karten der Seelenklempner, denkt Box, Rorschach. Kurz staunt er darüber, daß er diesen Begriff gefunden hat. Er läßt seinen Blick nicht lange auf diesen neuen Verletzungen ruhen. Er hat Angst davor, welche Figuren er sehen würde.
In der Nacht hatte das Jagdmesser seines Großvaters neben ihm unter der Plane gelegen. Jetzt prüft er die Klinge. Er hat nichts, womit er sie schleifen könnte, doch er prüft sie dennoch, aus purer Gewohnheit. Scharf genug.
Zuerst schneidet er ein Viereck aus einer Ecke der Plane. Das Messer gleitet glatt durch den Kunststoff. Er legt das Viereck aufs Gras.
Er kniet sich neben den Körper seines Sohnes. Er atmet tief ein, dann macht er sich an die Arbeit. Ohne abzusetzen und ohne einen bewußten Gedanken, benutzt er das Messer, wie sein Großvater es ihm bei ihrem ersten Jagdausflug in die Berge beigebracht hat.
Neunundzwanzig
Schon bevor Box den Motor des Nissans ausmacht, kommt Dee aus dem Haus, um ihn zu begrüßen. Sie trägt ihren Morgenrock über einem dicken Flanellschlafanzug und ist barfuß. Noch immer ist es sehr früh, obwohl Box schon über zwei Stunden wach ist. Lediglich die Spitzen der Pappeln werden vom Sonnenlicht erfaßt. Das Haus und die Auffahrt liegen noch im Schatten, die Zypressenhecke ist eine schwarze Wand. Dee tappt die Stufen von der Veranda herunter. Sie wirkt müde, traurig und zerbrechlicher, als Box sie je gesehen hat – auch
Weitere Kostenlose Bücher