Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bard
Vom Netzwerk:
blickte hinein,
zog die unteren Augenlider herab, so daß er wie ein Bluthund aussah. »Gib mir
lieber nur Tee und geröstetes Milchbrot und eine kleine Scheibe Gjedost.« Damit
verschwand er im Badezimmer.
    Im Büro war die Hölle los. Norman rief
Gott zum Zeugen an, daß sein Personal einem Irrenhaus entsprungen sei. Die
Telefonistin heulte, der Laufjunge beabsichtigte, den Entwicklungen vorzugreifen
und wollte gehen, bevor er hinausgeworfen wurde, die Ansager, auffallend bleich
im Gesicht, lasen ihre Sendungen mit noch mehr geschmäcklerischer Sorgfalt als
sonst. Hoffentlich ist es diesmal nicht eines meiner Konten! dachte ich,
während ich den Mantel ablegte.
    »Mary — komm her!« Es war eines meiner
Konten. Ich nahm mich zusammen und ging in Normans Zimmer. »Morris’ haben heute
früh angerufen. Wegen des Strumpfausverkaufs, den du angekündigt hast.
Kreischende Weiber schlagen die Türen ein, die Polizei ist vorgefahren, und das
Warenhaus Morris will von seiner kleinen Mary eine Erklärung dafür haben, warum
Strümpfe, die im Einkauf sechsundneunzig Cent pro Paar gekostet haben, zu einem
Preis von vierundsechzig angepriesen werden! Denk schnell nach, meine Beste —
aber was du auch sagst, es wird doch falsch sein.« — »Ich muß der Sache erst
nachgehen, Norman.«
    Die Notiz war richtig, das Manuskript
stimmte — offenbar hatte der Ansager geschlafen und sich in der
Siebenuhrsendung versprochen.
    Als ich vom Warenhaus in die
Sendestation zurückkam, war es inzwischen fast zwölf geworden. Auf meinem
Schreibtisch lag ein Stoß telefonischer Mitteilungen. Im Allgemeinen
Krankenhaus anrufen. — Jean in der Praxis anrufen. — Dr. Marsh im Allgemeinen
Krankenhaus anrufen. Jean hatte sechsmal angerufen, ich rief also zuerst sie
an. Sie sagte seelenruhig: »Dr. Jay liegt im Krankenhaus. Die Blutuntersuchung
hat vierzehntausend ergeben — zuviel weiße Blutkörperchen — , man hat
beschlossen, ihn zur Beobachtung einzuliefern. Dr. Marsh hat versucht, Sie zu
erreichen. Er ist jetzt dort.«
    Ich ging zu Norman, teilte ihm mit, Jim
liege zur Beobachtung im Krankenhaus, weil man eine Blinddarmentzündung
vermute, und bat ihn, mir freizugeben. »Ja, selbstverständlich!« Er blickte
auf. »Ich habe mir sagen lassen, daß der Sterblichkeitskoeffizient bei
Blinddarmoperationen recht niedrig ist, du brauchst also nicht mehr mit den
Lippen zu zucken! Soll ich dich hinfahren?«
    »Ich müßte im Laufe des Nachmittags
noch einmal zu den Warenhausleuten. Sie haben sich nur vorübergehend beruhigen
lassen.«
    »Ich werde Morris anrufen. Deinen
Klienten, liebe Mary, wird die hohe Ehre zuteil werden, daß der Verkaufschef
persönlich sie anklingelt, weil Jim im Spital liegt — was können die
Herrschaften mehr verlangen? Komm — holen wir den Wagen!«
    Miss MacFarlane, die Empfangsschwester
im Krankenhaus, sagte: »Gehen Sie nur hinauf, Mrs. Jay! Es ist schon alles für
die Operation vorbereitet, aber ich glaube, der Herr Doktor liegt noch auf
seinem Zimmer. 603.«
    Zimmer Nummer 603 war leer. Sie hatten
Jim in den Operationssaal transportiert, ohne daß ich ihn vorher noch einmal
gesehen hatte. Jede Faser meines Herzens sehnte sich nach Trost, nach etwas
Vertrautem und fand nichts als seltsame Gerüche, ungewohnte Laute, gedämpfte Stimmen
und die hastige, stille Sachlichkeit eines Krankenhauses — Geräusche, die einen
ebenso irritieren wie das unheimlich leise Rascheln von Mäusen.
    Eine forsche Pflegerin kam
hereinspaziert, legte einen in ein Handtuch eingewickelten Gegenstand auf die Kommode
und sagte: »In ein paar Minuten ist er wieder da. Machen Sie sich’s bequem!«
Nachdem sie mich mit einer Zeitschrift und einem kurzen, unpersönlichen Lächeln
versorgt hatte, schob sie wieder davon.
    Etwas getröstet durch ihren Besuch, redete
ich mir gut zu: Jim sei Arzt, er würde die denkbar beste Pflege erhalten, und
er würde besonders schnell wieder auf die Beine kommen, weil er als Arzt wissen
müsse, wie wichtig die Mitarbeit des Patienten sei.
    Ich öffnete die Illustrierte. Die Worte
zerfielen mir in unzusammenhängende Laute: ›- bak-ta-bak-ta-bak —‹ Oft, wenn
ich im Besuchsraum eines Krankenhauses auf Jim wartete, hatte ich mich
vergeblich gefragt, warum die Angehörigen der Patienten müßig auf den harten,
unbequemen Stühlen herumsäßen, statt zu lesen oder zu plaudern. Jetzt wußte
ich, warum. Ihre Lebensgeister sind für den Augenblick lahmgelegt, weil jemand,
den sie lieben, etwas Seltsames und

Weitere Kostenlose Bücher