Setz dich über alles weg
gedeckt, und alles sah ganz normal und friedlich
aus. Plötzlich fiel mir ein, daß sie am Ende noch gar nichts von der Tragödie
wisse, die unser Heim befallen hatte. Sie nahm meinen Mantel, brachte mir eine
Zigarette und reichte mir zwei oder drei Zettel mit telefonischen Mitteilungen.
»Dr. Marsh — er ruft an — Herr Doktor krank. Miss Jean — sie ruft an — Herr
Doktor krank. Mrs. Bord — sie ruft an — Herr Doktor krank.« Während ich im Kino
saß, war die Neuigkeit bis zu Yuri gedrungen. »Der Herr Doktor — ist er krank?«
»Ja, er ist heute früh operiert worden.
Blinddarm.«
»Mein Bruder ist daran gestorben — und
meine Freundin — wird der Herr Doktor auch sterben?« Ihre kleinen schwarzen
Augen blickten richtig bekümmert drein.
»Nein, Yuri, es geht ihm gut.« Aber
auch ich hatte Angst. Es ist so schwer, die Trosttechnik —
Machen-Sie-sich-nur-ja-keine-Sorgen! — von der nüchternen Konstatierung —
Normaler-Verlauf, alles-in-Ordnung! — zu unterscheiden, die den geschickten und
geübten Arzt verrät. Mir fielen immer nur die schönen Gespräche ein, die damit
geendet hatten: ›Dann ist er gestorben. Du mußt wissen, es war die reine
Teufelei — ein Blutpfropf, von dem nichts zu merken war. Nicht die geringsten
Anzeichen, daß da irgend etwas nicht gestimmt hätte!‹
Yuris ungewöhnliche Worte rissen mich
aus meinen Grübeleien. »Ich könnte von der Schule wegbleiben und Ihnen helfen.
Mein Vater läßt mich sicher — ich rufe an.« Das war die reizendste und
höflichste Geste, die Yuri und ihre Familie sich ausdenken konnten: Denn es ist
einfach unerhört, aus welchem Grunde auch immer, von der Schule wegzubleiben!
Da die Japaner es für den Gipfel der Unhöflichkeit halten, traurige Regungen
durch den Gesichtsausdruck zu verraten, ignorierten wir beide die zwei großen
Tränen, die aus Yuris starrblickenden Augen rollten.
In dem Bestreben, ihrem Großmut nicht
nachzustehen, erwiderte ich: »Vielen Dank, Yuri! Es ist sehr lieb von Ihnen und
Ihrem Vater, uns helfen zu wollen. Aber ich gehe nicht ins Büro, solange der
Herr Doktor krank ist, Sie brauchen also nicht von der Schule wegzubleiben. Bitte,
sagen Sie Ihrem Vater, daß ich mich bei ihm bedanke und daß der Herr Doktor und
ich seine Aufmerksamkeit sehr zu schätzen wissen.«
Ich rief Dr. Marsh an. »Jim geht es
famos, Mary. Natürlich ist er eigensinnig und unausstehlich, aber das sind alle
Ärzte, wenn sie krank werden.« Seine Stimme klang stolz. »Er ist nicht
schlimmer als wir alle. In etwa einer Woche ist er wieder auf den Beinen. Es
wird gut sein, wenn Sie zweimal am Tag herkommen, nur ein paar Minuten bleiben
und wieder gehen. Bringen Sie ihm nichts zu essen mit und kümmern Sie sich
nicht um sein Gemecker! Es war ein wenig schwieriger, als wir dachten, aber er
wird sich bald erholen.«
Norman war der nächste auf der Liste.
Ich sagte ihm, Jim sei operiert, und wenn er nichts dagegen hätte, würde ich
nur zwischen den Krankenhausbesuchen ins Büro kommen. »Wie du willst, mein Kind
— obwohl es ohne dich hier viel stiller und friedlicher zugeht.«
Am nächsten Tag hatte Miss Witherspoon
Dienst. Als ich die Tür aufmachte, hörte ich Jim sagen: »Ich rühre das Zeug
nicht an, und damit basta!« Seine Stimme klang nicht unfreundlich, nur träge
und nörgelnd. Ihre Stimme dagegen war schrill vor unterdrückter Erregung. »Sie
kennen die Diät genausogut wie ich, Herr Doktor, und Sie wissen, daß wir mit
der Glukose aufhören können, sobald Sie zu essen beginnen.« — »Bringen Sie mir
etwas Genießbares, und ich werde es essen!« schnauzte er sie an.
Ich stand wartend da und rührte mich
nicht. Der Apparat träufelte eine Flüssigkeit in Jims Venen durch eine lange
Nadel, die an der inneren Beuge seines linken Ellbogens angeschnallt war. Ich
befürchtete sofort, er hätte einen Rückfall gehabt, und man wollte ihn mit
Glukose am Leben erhalten.
Dann drehte er sich um und erblickte
mich, lächelte wie ein Kind und sagte: »Schau dir diesen Bibliothekskleister
an, den sie über lauter merkwürdig bibbernde Sachen gegossen haben! Würdest du
so was essen?« Er musterte Miss Witherspoon mit gerunzelter Stirn. »Und die
Glukose können Sie auch mitnehmen — ich brauche das verdammte Zeug nicht mehr!
Davon werden die Blähungen nur noch schlimmer! Wie ist es dir gestern abend
ergangen, Mary?« Ich erzählte ihm, ein Wunder sei geschehen, sowohl Yuri wie
ihre Angehörigen hätten beschlossen, mich gut zu behandeln,
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