Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bard
Vom Netzwerk:
ins Bett und ruf mich an.«
    »Soll ich auf bestimmte Symptome
aufpassen?« fragte ich.
    »Bei ernsthafter Vergiftung treten für
gewöhnlich innerhalb einer Stunde Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall ein.
Ich kann in zwei Stunden bei euch sein.« Ich besorgte mir das Senfpulver und
lief an den Strand zurück. Sally schlummerte friedlich in Großpapas Armen, Mari
döste zu seinen Füßen, und Heidi lag schlafend auf dem Sofa.
    Ich weckte Sally, flößte ihr den
scharfen Senf mit warmem Wasser ein und zwang sie, ordentlich zu trinken. Nach
der ersten halben Tasse übergab sie sich und trank dann brav die zweite halbe.
Wir fuhren damit fort, bis sie sechs halbe Tassen Senf in warmem Wasser geleert
hatte. Wenn Großpapa nicht interveniert hätte, würde ich wahrscheinlich nicht
eher aufgehört haben, als bis sie ihre Fußnägel erbrach. »Meine Tochter«, sagte
er streng, »jetzt bringst du das Kind zu Bett. Sie hat kein Rattengift
geschluckt. Ich habe Mari gefragt, was passiert ist, und sie sagt, beide hätten
davon gekostet und es ausgespuckt.« Er reichte mir eine Tasse Tee, die zur
Hälfte mit Whisky und zur Hälfte mit Kaffee gefüllt war. »Trink das und bring
dann die Kinder zu Bett!«
    Ich trank die kräftige Mischung, die
Großpapa nichts anzuhaben schien, mich aber in einen Zustand versetzte, daß ich
dachte, der Schädel würde mir platzen, legte die Kinder schlafen und ging ins
Dorf, um Jim anzurufen. Während ich durch die milde, sternhelle Nacht
spazierte, dachte ich darüber nach, wie sehr ich mich verändert hatte. In sechs
Jahren, die mit Überschallgeschwindigkeit vergangen waren, war ich dermaßen von
Jim und der Medizin abhängig geworden, daß ich mich ängstigste, zwei
Autostunden von zu Hause entfernt zu sein. Wie mochte meiner Mutter zumute
gewesen sein, wenn sie in einem gottverlassenen Bergwerksdorf ohne Telefon,
ohne Mann und ohne Arzt mit sämtlichen kritischen Situationen hatte fertig
werden müssen. Ich erinnerte mich, wie mein Bruder Cleve, Betty und ich auf
einem wackligen Feldstuhl geklettert waren, um an eine Büchse mit Erdnüssen
heranzukommen. Cleve rutschte aus, fiel herunter und brach sich den Arm am
Ellbogen. Es muß ein mehrfacher Bruch gewesen sein, aber Mutter gab ihm etwas
Kognak, um die Schmerzen zu lindern, ließ uns bei Gammy zurück und fuhr zehn
Kilometer weit nach Butte, um seinen Arm schienen zu lassen.
    Gerade als ich an die Wegkreuzung kam, hielt
neben mir ein Auto, und Jims Stimme sagte: »Soll ich dich mitnehmen?« Noch nie
hatte ich so himmlische Töne vernommen.
    Ich erzählte ihm, Sally hätte friedlich
geschlafen, bis ich ihr Senf mit warmem Wasser einzuflößen begann, und jetzt
schlafe sie wieder, und er würde nie begreifen können, wie herrlich es für mich
sei, ihn vor mir zu sehen.
    Er sagte: »Ich werde sie mir schnell
einmal anschauen — dann muß ich zurück.« Ich jammerte, daß ich es ohne ihn
nicht aushalten könne. Er lachte. »Es wird dir guttun — da lernst du mich erst
richtig schätzen! Sonnabend bin ich wieder da!«
    Er besichtigte Sally, der das
Rattengift offenbar glänzend bekommen war, trank eine Tasse Kaffee und kehrte zu
seinem Auto zurück. »Freitag abend um acht Uhr rufe ich wieder an, um zu hören,
ob du etwas brauchst. In dringenden Fällen kann Jean mich erreichen.« Er fuhr
weg.
    Zum erstenmal verstand ich, warum meine
Mutter zu sagen pflegte, sie hasse nichts so sehr, als sich von jemandem
verabschieden zu müssen.
    Das Gift hatte keine weiteren üblen
Folgen, wenn man davon absah, daß Sally in Zukunft, bevor sie etwas zu sich
nahm, stets wie eine kleine Eidechse ihre rosa Zunge herausstreckte und
argwöhnisch von der Sache kostete.
    Nur ich fand kaum Zeit zum Essen. Um
fünf Uhr früh wachten die Kinder auf und schrien vor Hunger. Sie verzehrten ein
gewaltiges Frühstück und wollten dann gleich an den Strand. Ich mußte die Türen
versperren, während ich meinen Kaffee trank und das Frühstück für Großpapa
bereitete, und sie hämmerten gegen die hohen Fenster und gegen die schönen
blauen Glasschwimmer, weil sie unbedingt hinaus wollten. Während ich zuerst das
Geschirr und dann die Windeln wusch, achtete Großpapa darauf, daß sie einander
nicht umbrachten. Das Wasser war hart und mineralhaltig — grau und steif hingen
die Windeln auf der Veranda. Ich machte die Betten, fegte etliche Sandberge aus
dem Haus, und um sieben waren wir alle bereit, an den Strand zu gehen. Der Weg
zum Strand war nicht weit, aber mit

Weitere Kostenlose Bücher