Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bard
Vom Netzwerk:
dunklen Matrosenanzug öffnete.
    Jim sagte: »Tag, Peter!« Peter, der im
Laufe der letzten zwei Jahre mehrere Male »fast gestorben‹ wäre — an
Lungenentzündung, Blinddarmentzündung, Gehirntumor und Maulsperre (die sich als
Ziegenpeter entpuppte) — nahm ein großes Bonbon aus dem Mund, schrie aus voller
Kehle: »Mama!« und blieb auf der Schwelle stehen.
    Ein dickes, schwarzäugiges, kleines
Mädchen erschien neben Peter, Sonja, die »fast gestorben‹ wäre — an
Kinderlähmung, gebrochenem Genick, Gehirnhautentzündung und
Blinddarmentzündung, welche sich als die gesamte Ernte grüner Kirschen vom Baum
eines Nachbarn entpuppte, nahm den Finger aus dem Mund, schrie: »Ma-ma!« und
blieb auf der Schwelle stehen.
    »Ma-ma‹ erschien, öffnete die Tür weit
und sagte: »Endlich — endlich kommen Sie in mein Chaus!« und küßte mich auf
beide Wangen. Dann sagte sie mit tiefer, melodischer und sehr melancholischer
Stimme: »Gehen hir chinauf zu ihm, bevor es zu spet is — ich glaube, er
stirbt.« Der Tschaikowskij wechselte in Rachmaninoffs Dritte hinüber. Es war
das erstemal, daß ich Mrs. Ilshensky zu Gesicht bekam. Da die Schilderung ihrer
Streifzüge kreuz und quer durch die Welt so erschütternd und die einzige
Weißrussin, die ich bisher getroffen hatte, so massiv gewesen war wie eine
Wagnersängerin, machte ich große Augen. Sie war schlank und sehr schön. Riesige,
schwarze Augen mit tiefschwarzen Ringen, schwarzes Haar mit einer weißen
Strähne an der linken Schläfe, und das köstlichste schwarze Samtkleid, das ich
je gesehen hatte.
    Als wir ins Haus gingen, wunderte es
mich, daß der Plattenspieler mit voller Lautstärke lief, da sie mich doch gegen
Mittag angerufen hatte, um mir mitzuteilen, sie habe wieder einmal
»schräckliche Kopfschmerzen... Ein Geflister is schon unerträglich — das Liecht
die reine Qual — und wenn ein Bliemchen zu Boden fällt, nicht auszuhalten!‹ Das
Geschmetter Rachmaninoffs wehte uns gleichsam die Treppe hinauf, und sie sagte:
»Meine Mann liebt russisches Musik — das is alles, was ihm noch geblieben —
Musik und die Biecher.«
    Das mit rotbraunem Samt verkleidete
Treppenhaus war matt erhellt durch eine Lampenschale, die an drei schweren
Messingketten von der Decke hing. Wir stiegen die Wendeltreppe hinauf (»Kommen
Sie schnell, Cherr Doktor, Peter hat mit Sonja Kosak gespielt, und sie sind auf
die Treppe gefallen, sie sind nicht tot, aber sie haben gebrochene Ricken...‹)
und landeten in einem der Türme. Der Gatte lag in einem riesigen Himmelbett. Er
war dick, blond, sehr hübsch und sah gesund und elegant aus. Das Bett war mit
Büchern übersät. Bücher lagen auf den Stühlen und dem Fußboden, an den Wänden
standen hohe Bücherregale.
    Er winkte mit seiner langen
Zigarettenspitze und sagte: »Ich bin beim Übersetzen — ich begreife nicht,
warum die meisten Übersetzungen so schlecht sind. Vielleicht werde ich mit dem
Pelzhandel aufhören und Übersetzer werden...« Er klopfte auf eine schmale
Stelle neben der Bettdecke. »Setz dich hierher, meine Liebe, damit ich dich
sehen kann. Nehmen Sie Platz, Herr Doktor!« Die Musik war durch die Entfernung
soweit gedämpft, daß ich gerade noch hören konnte, was er sagte. Er hatte den
gleichen Akzent und die gleiche einschmeichelnde Stimme wie Charles Boyer, wenn
er zu der Diva sagt: ›Du trinkst rosa Champagner, mein Kind!‹ Ich setzte mich
auf einen Stuhl. Jim holte sein Stethoskop hervor und beugte sich über Mr.
Ilshensky, der ihn mit einer herrischen Handbewegung wegschob. »Zuerst wollen
wir ein Gläschen Wodka trinken. Tanja, meine Liebe — unsere Gäste!« Mrs.
Ilshensky ging zu einem riesigen, geschnitzten Büfett und füllte kleine
Kristallgläser mit einer weißen Flüssigkeit. Mr. Ilshensky sagte: »Salud,
pesetas y amor!« und wir tranken. Es schmeckte nach brennendem Petroleum.
    Während Jim Mr. Ilshensky untersuchte,
ging ich mit Tanja und den dicken, trägen Kindern hinunter. Im Wohnzimmer
standen drei enorme, mit rotbraunem Samt überzogene Sofas. Die Erkerfenster
waren mit rotbraunen Samtdraperien verhängt. Wir wateten fast bis zu den Knien
in dem Flor grellbunter amerikanischer Orientteppiche. Die Lampen zu beiden
Seiten des Kamins waren kleine Mohrenknaben mit edelsteingeschmückten Kugeln in
den Händen. Der Plattenspieler steckte in einem riesigen geschnitzten
Eichenschrank, groß wie der Kühlschrank eines Krankenhauses und muß, nach dem
Ton zu schließen, mindestens zehn

Weitere Kostenlose Bücher