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Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bard
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Lautsprecher enthalten haben.
    Tanja verminderte die Lautstärke ein
wenig und sagte schnell etwas zu den Kindern auf russisch. Die kleinen Brücken
zwischen Rußland und Amerika erwiderten: »Nö, wir wollen nicht!« — und fuhren
fort, mich anzustarren.
    »Dann bringen wir sie ins
Kinderzimmer!« sagte Tanja.
    Sie ging voran durch ein Labyrinth von
Räumen, die alle im Halbdunkel lagen und mit gargantuanischen Eichenmöbeln
vollgepfropft waren. Das Kinderzimmer, das an der Hinterseite des Hauses lag,
mag ursprünglich als Bibliothek gedacht gewesen sein. Regal um Regal mit Fahrrädern,
Rollern, Zügen, Booten, Puppen, mechanischem Spielzeug, Laterna magicas,
Schaukelpferden — nur ein Spielzeugbasar auf dem Höhepunkt der Weihnachtssaison
hätte damit konkurrieren können. Ich ging zu den Regalen und wollte eine Puppe
zur Hand nehmen.
    »Nicht anrühren — die gehört mir!«
schrie Sonja. Sie lief hin, pflanzte sich vor den Puppen auf und betrachtete
mich nach wie vor mit kalten, starren Augen. Peter griff nach einem Gewehr, das
aussah wie eine zwölfkalibrige Schrotflinte — und wer weiß, ob es nicht eine
war — , zielte auf mich und sagte: »Ich erschieße dich — piff, paff!« Dann ging
er hin und kniff Sonja, die ihm prompt einen Tritt gegen das Schienbein gab,
und beide fingen an zu plärren.
    Mrs. Ilshensky sagte: »Kleine Dierchen
— alle Kinder sind Sadisten.« Sie winkte ihnen mit ihrer beringten Hand zu.
»Spielt jetzt!« befahl sie und versperrte die Tür. Sofort begannen sie die Tür
mit den Füßen zu bearbeiten und kreischten: »Laß uns ‘raus!«
    Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück und
setzen uns an den Kamin. Ein Mädchen kam mit einem Tablett, auf dem eine
Karaffe Wodka und einige Kristallgläser standen.
    »Sie lieben Musik — ich werde Ihnen ein
paar kleine russische Volkslieder Vorspielen.« Sie ging zu dem Plattenspieler
und legte einige Platten auf. Als die melancholischen Stimmen zu singen
begannen, übersetzte mir Tanja den Text. »Die Mutter fährt mit die Kinder
Schlieten — es schneit — die Welfe kommen — sie laufen hinterher — die Mutter
will sie mit der Peitsche wegjagen — es nitzt nichts — die Welfe fressen die
Kinder auf — sie singt ein Klagegesang...
    Es is eine Dorfhochzeit — man singt und
man tanzt, die Kosaken reiten durch das Dorf — ihr Liebster wird ihr
weggenommen — sie singt ein Klagegesang...
    Es is ein Arbeitslied — es is ein
Bauernlied — die Kosaken trampeln die Braut zu Tod...« — Der Plattenspieler gab
einen letzten Seufzer von sich und verstummte.
    »Die Russen sind ein starkes Volk«,
murmelte sie, blickte ins Feuer und trank geistesabwesend ein Glas Wodka nach
dem anderen.
    »Bestimmt!« sagte ich und versuchte,
den Mut aufzubringen, noch einen Schluck zu bewältigen.
    Sie erhob sich und legte wieder den
Tschaikowskij auf.
    Ich fragte sie, ob die Kopfschmerzen
weg seien. Sie blickte mit traurigen, schwarzen Augen zu mir auf.
    »Es is nie weg — es is eigentlich keine
Kopfschmerzen — ich glaube, es muß die Amerikakrankheit sein. Der Cherr Doktor
sagt, ich soll zu ihm in die Praxis kommen und mir untersuchen lassen, aber
wenn es die Amerikakrankheit is, was hat es dann fir eine Sinn?« Sie dämpfte
die Musik zu einem leisen Wimmern. »Ich habe gelebt in Frankreich, in Italien,
in Österreich, in England, in China, in alle nordische Länder — nirgendwo chör’
ich von diese Krankheit. Und jetzt lebe ich in USA, und überall wo ich gehe —
jede Frau hat sie!«
    Sie zuckte die Achseln.
    Ich fragte sie nach den Symptomen.
    »Alle ganz verschieden, deshalb kann
ich nicht den Cherrn Doktor erzählen. Manche werden verrickt — manche haben
Kopfschmerzen — manche sind ganze Zeit miede — manche lassen sich scheiden —
sind so-o nervös! Ich bin nervös, und alle sind nervös, das ist eine Sache!«
    Die Kinder hatten offenbar die Tür
eingetreten, denn sie kamen jetzt schreiend und sich prügelnd ins Zimmer
gerannt. Sie sprach russisch zu ihnen. »Wir wollen nicht!« sagten sie, setzten
sich mir gegenüber hin und starrten mich wieder an.
    Ein Mädchen kam mit einem Tablett, auf
dem eine Schale mit eisgekühltem Kaviar stand, ein Teller mit Zwieback und Käse
und eine gewaltige Kuchenplatte. Tanja reichte jedem der beiden fetten
Kinderklumpen ein Stück Kuchen und sagte: »Sie gehen nicht gern in die Bett,
denn dort fiehlen sie sich so-o einsam!«
    Ein Kindermädchen erschien, packte die
strampelnden und brüllenden Rangen und

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