Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
ägyptischen Gesellschaft wird sich so schnell nicht beseitigen lassen.
Azza und ihre Familie sind irgendwo im sich abmühenden Mittelfeld angesiedelt. Ihnen geht es in materieller Hinsicht weitaus besser als ihren Großeltern, die aus einem ’ izba stammen, dem ländlichen Herkunftsort der Familie westlich von Kairo; wie fast die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung leben auch die meisten Verwandten Azzas mittlerweile in einer Stadt. Sie sind auch besser gebildet: Azza und all ihre Geschwister haben studiert – sie gehören zu den Nutznießern von Nassers Politik, die auch jenen Ägyptern ein Studium eröffnete, die nicht der Elite angehören. Leider hat das Angebot an Arbeitsplätzen nicht mit der starken Zunahme von Universitätsabsolventen Schritt gehalten, und ihre Ausbildung hat mit den Anforderungen des Marktes nicht Schritt gehalten: Während die amtlichen Statistiken die Arbeitslosigkeit auf eine niedrige zweistellige Zahl beziffern, legen inoffizielle Schätzungen die Vermutung nahe, dass die Quote wohl eher bei einem Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung liegt, wobei Hochschulabsolventen am stärksten betroffen sind. Aber selbst wenn man Arbeit hat, ist es schwer, über die Runden zu kommen: Die jährliche Inflation bewegt sich heute ebenfalls im zweistelligen Bereich.
Die Ausläufer dieser tiefgreifenden Umwälzungen in der ägyptischen Gesellschaft erschüttern auch Azzas eheliches Schlafzimmer, auch wenn die Erde höchstwahrscheinlich nicht bebt, wenn sie und ihr Mann sich lieben. »Manchmal hat er eine Erektion, und nach zwei Minuten …«, Azza spitzte den Mund und ahmte einen Reifen nach, aus dem die Luft entweicht. »Jetzt scheut er sich, mir nahezukommen. Früher haben wir es alle fünf Tage gemacht. Jetzt ist es schon über einen Monat her.« Ein Arzt, den Azzas Mann auf ihr Drängen schließlich aufsuchte, bescheinigte ihm, dass ihm organisch nichts fehle. Sie fragt sich, ob ihre Probleme vielleicht etwas mit ihrer Arbeit zu tun haben.
Wie ein Viertel aller Ägypterinnen in ihrem Alter ist auch Azza berufstätig; sie verdient fast dreimal so viel wie ihr Mann, da sie bei einem ausländischen Unternehmen arbeitet, während er ein mittlerer Angestellter bei einem maroden Staatsbetrieb ist. Den größten Teil der laufenden Haushaltsausgaben – und das ist ein ganz schöner Batzen – finanziert sie. Azza und ihre Familie sind in den Sog der florierenden Konsumkultur Ägyptens geraten; bei all den Privatschulgebühren (in Anbetracht des schlechten Niveaus der öffentlichen Schulen geradezu eine notwendige Ausgabe), den Mitgliedsbeiträgen für Sportvereine (eigentlich kein Luxus, wenn man bedenkt, dass es in ganz Kairo kaum öffentliche Plätze gibt, auf denen man gefahrlos Sport treiben kann) und den Aufwendungen für Handys und neue Kleidung für drei Kinder sind mindestens zwei Gehälter nötig, um die Fixkosten zu decken. Azza lebt mit Mann und Kindern in einer bescheidenen Wohnung mit zwei Schlafzimmern in einem der scheußlichen Betonsilos, die in den letzten zehn Jahren, in denen sich Kairo immer weiter in die Wüste ausgedehnt hat, aus dem Boden gestampft wurden. Sie würden gern umziehen – die Schlafsituation hat Azzas Liebesleben nicht gerade befördert, seitdem sie und ihr Ehemann ein Schlafzimmer mit ihrem jüngsten Kind teilen –, aber die Immobilienpreise sind in den letzten zehn Jahren in die Höhe geschnellt, so dass die nächste Sprosse auf der Immobilienleiter für sie praktisch unerreichbar ist.
Azza gehört einer Generation und einer Schicht von Frauen an, die in der Zwickmühle stecken. Einerseits hat sie von den Anstrengungen des ägyptischen Staates profitiert, den Zugang von Mädchen und Frauen zum Bildungssystem zu verbessern; über 70 Prozent der Ägypterinnen können heute lesen und schreiben – das entspricht einer Verdreifachung gegenüber der Zeit, als Azza geboren wurde –, und die Hälfte hat mindestens eine Sekundarschule besucht. 2 Sie hat – zumindest auf dem Papier – mehr Rechte, als ihre Mutter in Azzas Alter besaß, und viel mehr Rechte als die Frauen in den meisten Nachbarstaaten Ägyptens: Will Azza zum Beispiel verreisen, kann sie einen eigenen Reisepass beantragen, ohne dafür die Erlaubnis des Ehemanns zu benötigen, und sie kann ihre ägyptische Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben. Diese hart erkämpften Rechte haben allerdings viele Haken, und Männer genießen de jure und de facto noch immer weit mehr Freiheiten als Frauen.
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