Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Männer, die in den Nebenstraßen gegen Armee und Polizei kämpften; und die Tausende von Teenagern und Twens, die in einer Atmosphäre umherliefen, die halb Rave-Party, halb politische Kundgebung war.
»Sein oder nicht sein?« Eine Frau, deren Hijab aus einer ägyptischen Fahne bestand, der Adler geschickt an der Stirn platziert, löste sich aus der Menge, trat dicht an mich heran und wiederholte ihre Frage.
»Wie bitte?«, fragte ich, durch das überraschende Shakespeare-Zitat und das Spektakel ringsherum aus der Fassung gebracht. Neben mir lümmelten ein paar Männer und eine Frau auf dem Gehsteig und rauchten Haschisch. Ein junger Imam im traditionellen Gewand und mit Turban blieb stehen, um ihnen die Leviten zu lesen, aber sie entgegneten, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Unmittelbar vor mir nahm eine junge Frau einen Anruf ihrer Mutter entgegen; sie versicherte ihr, alles sei bestens, und sie wies ihre dringliche Bitte ab, sofort nach Hause zu kommen. Unterdessen schlenderten junge Pärchen Hand in Hand an mir vorbei – eine Intimität, die bis dahin nur im Verborgenen möglich war, wurde jetzt am helllichten Tage zur Schau getragen.
Diese öffentliche Überschreitung von Normen war erstaunlich in einer Kultur, die geprägt ist von Konventionen und Konformität. Waren dies die Wallungen einer sozialen Revolution?
»Das ist die Frage«, antwortete die Frau auf mein Schweigen, ehe sie wieder in der Menge verschwand.
Ich war zum Tahrir-Platz gekommen, um mit jungen Menschen über Sex zu sprechen, darüber, wie sich der Kampf um politische Freiheiten womöglich in ihrem Privatleben niederschlug. Sally Al Haq, eine blutjunge Literaturstudentin und selbsterklärte »soziale Rebellin« von einer Provinzuniversität, war für radikalen Wandel. »Klar, da sind Leute auf dem Platz, die ein sehr freies Sexualleben haben. Das ist in Ordnung«, sagte sie. »Ich bin mit alldem einverstanden, und ich respektiere diese Einstellung.« Anders als viele junge Ägypter las Al Haq leidenschaftlich gerne, sie interessierte sich insbesondere für feministische Literatur und war ein Fan französischer Erotika. »Ich lese über das Paris von 1968. ›Es ist verboten zu verbieten‹«, zitierte sie lächelnd einen Slogan jener berühmten Studentenunruhen. »Die Achtundsechziger haben in ihrem Privatleben und auch in der Gesellschaft und im politischen Leben eine Menge verändert. Ich hoffe, dass es bei uns genauso sein wird.«
Al Haq führte mich durch das dichte Gedränge in die Mitte des Platzes, zwischen zahllosen Abspannseilen und durch einen Wald behelfsmäßiger Zelte hindurch, um mir Amr El Wakeal vorzustellen, einen jungen Medizinstudenten, der wie sie Mitglied einer neuen politischen Jugendpartei ist. Die beiden jungen Freunde stammten aus Nachbarorten und aus dem gleichen konservativen Milieu, aber ihre Meinungen zur sexuellen Freiheit lagen Welten auseinander. »Sex ist ein schlechtes Thema. Ich gebe Ihnen einen guten Rat, zu Ihrer eigenen Sicherheit sollten Sie hier nicht über dieses Thema sprechen«, warnte mich El Wakeal freundlich. Ich war ein wenig überrascht in Anbetracht des Rufes, in dem der Tahrir-Zeltplatz stand – nämlich eine Art Mini-Woodstock zu sein, samt Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll. »Ich will Sie nicht anlügen. Unter all diesen Zelten sind vielleicht zwei, wo Sie das finden. Dort sind sie sehr freizügig, sozialistisch, sie akzeptieren das vielleicht, aber ihr Prozentsatz ist sehr gering«, fuhr El Wakeal fort. Er deutete auf sein eigenes Zelt, in dem eine Handvoll Männer und Frauen auf dem Boden saßen und vor der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Kälte Schutz suchten, und auf die anderen Besetzer dahinter. »In all diesen Zelten ist das ein Unding. Die meisten kommen vom Land und sind arm. Wenn irgendjemand herausfindet, dass [Männer und Frauen Sex miteinander haben], ist das eine große Katastrophe«, sagte er kopfschüttelnd. »Das entspricht nicht unseren Sitten oder unserer Moral. Wir Ägypter sind Araber, wir sind konservativ, wir sind religiös, wir glauben an die Institution Ehe.« El Wakeal war entsetzt über die Vermutung, die politische Befreiung, für die er und seine Kameraden kämpften – und in den letzten Tagen auch starben –, werde die Ägypter vielleicht eines Tages von allen Fesseln, einschließlich der sexuellen, befreien. »Niemand, niemand wird das akzeptieren. Das ist nicht die Freiheit, nach der wir streben. Die politische Revolution
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