Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Grundsätze, aber innerhalb der vom Islam und der Gesellschaft gezogenen Grenzen oder Schranken«, sagte er mir. »Freiheit innerhalb eines Rahmens«, so beschreiben viele innerhalb und außerhalb der Bruderschaft ihren Traum von einer neuen Ordnung für Ägypten. Aber ich frage mich, ob wirklich nur der Rahmen vorgegeben werden soll oder auch – verbindlich – die Silhouetten der Gedanken und Handlungen der Menschen.
Wettrennen zum Pol
In der sich abzeichnenden neuen Gesellschaftsordnung Ägyptens kämpfen eine liberale Minderheit, die ähnlich wie Dialmy denkt, und eine konservative Mehrheit, die auf einer Wellenlänge mit Fath al-Bab liegt, auf allen Gebieten um die Vorherrschaft. Dazu gehört auch die strittige Frage der persönlichen Freiheiten, insbesondere was ihr Verhältnis zur »Moral« betrifft – deren Definition weitgehend auf Frauen und Sexualität eingeschränkt gewesen ist, im Gegensatz zu den umfassenderen Fragen der politischen, ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit. In der Ära nach Mubarak lassen sich politische Gegner mit am leichtesten durch Sex diskreditieren: Liberale dadurch, dass man ihnen anhängt, sie würden »ausländische«, das heißt westliche Ideen über sexuelle Freiheit propagieren, Islamisten dadurch, dass man sie Kavaliersdelikten und Perversionen bezichtigt, von der Nutzung des Autostrichs bis zu Nekrophilie.
»In einer Welt, in der Frustration, Aggression und Angst den Alltag bestimmen«, bemerkte Bouhdiba, »sind Hypersexualität und religiöser Puritanismus zweifellos bequeme Wege, um uns unserer Verantwortung zu entziehen und unser Versagen zu kaschieren.« 41 Er ergänzte: »Wenn eine Gesellschaft mit Schwierigkeiten konfrontiert ist, kehrt sie zu ihren Ursprüngen zurück oder zerstört diese. Die beiden großen Pole der politischen Entwicklung [im Nahen Osten] sind Mustafa Kemal [Atatürk] in der Türkei, der mit allem brechen wollte, und Abd al-Aziz ibn Saud [der Gründer von Saudi-Arabien], der zu seinen Wurzeln zurückkehren wollte. Dies sind die beiden Pole, zwischen denen sich die muslimischen Gesellschaften heute befinden.«
Die große Frage ist, von welchem Pol sie angezogen werden. Bouhdiba glaubt, gesellschaftliche Veränderungen innerhalb der Region würden letztlich nicht das Ergebnis dramatischer Konflikte sein – ausgelöst zum Beispiel durch Kundgebungen radikaler Feministinnen oder Gay-Pride-Märsche –, sondern vielmehr eines langfristigen Wettbewerbs der Ideen zwischen Gesellschaften, die in einem kulturellen Wettstreit miteinander stehen, ohne sich gegenseitig zu bekämpfen. Denjenigen, die heute an der Macht sind und die die Sexualität am liebsten unter den Gebetsteppich kehren würden, sagt er: »Ihr interpretiert die Kultur- und Rechtsgeschichte unserer Region falsch. Ihr könnt euch ohne weiteres auf beides beziehen und ganz beruhigt sein, dass ihr nicht gegen die Religion verstoßt, wenn ihr sexuelle Sachverhalte erörtert.« Für diejenigen aber, die glauben, die weitere Entwicklung könne nur dem westlichen Weg folgen, hält er ebenfalls warnende Worte bereit: »Wir müssen über Aids, In-vitro-Fertilisation, neue sexuelle Verhaltensweisen und Abtreibung sprechen. Dies sind Probleme, aber wir müssen unter Beachtung der moralischen Werte des Korans darüber sprechen. Die westlichen Modelle [der sexuellen Selbstverwirklichung], die [Sex] im Kino und auf der Straße offen zur Schau stellen, helfen uns da leider nicht weiter.«
Für Bouhdiba liegt die Zukunft der arabischen Region, innerhalb und außerhalb des Schlafzimmers, darin, die eigene Geschichte umfassend zu verstehen. »Ich persönlich bin gläubig«, erklärte er, »und weil ich dies bin, denke ich über meinen Glauben nach. Der Glaube von heute ist nicht der Glaube von gestern. Was bedeutet es, ein Muslim zu sein, was bedeutet es, gläubig zu sein, in der Sexualität, in der Barmherzigkeit [in anderen Elementen des islamischen Lebens]? Gläubig zu sein bedeutet heute nicht, die alten Botschaften zu reproduzieren, sondern diese Botschaften zu verstehen und sie in Verhaltensweisen zu integrieren, die den Forderungen unserer Zeit gerecht werden. Erneuerung, darum geht es.«
Die arabische Region begann dieses Jahrzehnt mit einem politischen Urknall; wie sich dieser auf das Sexualleben auswirken wird und seinerseits vom Sexualleben beeinflusst werden wird, ist eine offene Frage. Die Ordnung des Liebeslebens in der heutigen arabischen Welt gleicht unserem Sonnensystem: Die Ehe
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