Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
jede zukünftige Regierung, die den Islam als einen Eckpfeiler ihrer Rechtsordnung betrachtet, muss entschlossen an diese Tatsache erinnert werden.
Die Achtung der Privatsphäre und die islamische Pflicht, die Gemeinschaft vor »Unrecht« zu schützen – wie immer man dieses definiert –, muss gegen die Meinungsfreiheit abgewogen werden. Wie wir in diesem Buch immer wieder gesehen haben, gibt es in der Region Menschen, die einen Mittelweg zwischen Schweigen und Enthüllen beschreiten. Sie haben das gefunden – oder genauer gesagt, wiederentdeckt –, was Abdelwahab Bouhdiba, den wir im ersten Kapitel kennenlernten, einen Weg nannte, um »mit dem Anstand, den der Koran gebietet«, über Sexualität zu sprechen. Die lange Geschichte der arabischen Literatur zeigt mustergültig die Unbefangenheit, mit der die arabische Kultur ehedem ihr Sexualleben behandelte.
Dieser entspannte Umgang hatte unter anderem mit der Erzeugung und Vermittlung von Wissen über Sexualität zu tun. Wie wir gesehen haben, wurde die Erforschung der Sexualität – und der Soziologie im Allgemeinen – in Ägypten und vielen arabischen Ländern durch amtliche Zensur und Selbstzensur behindert. Ein klareres Bild vom Sexualleben der Ägypter würde letztlich den Ägyptern selbst nützen: denjenigen, die versuchen, die Ausbreitung von HIV zu verstehen und einzudämmen oder die Welle sexueller Gewalt aufzuhalten; denjenigen, die sich für Sexualerziehung oder ein liberaleres Abtreibungsrecht einsetzen; denjenigen, die für Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen plädieren. Der Westen hat gezeigt, wie wichtig verlässliche empirische Daten über das Sexualleben sind, nämlich dank der bahnbrechenden Kinsey-Berichte über männliche und weibliche Sexualität in den 1940er und 1950er Jahren, deren Aussagekraft selbst der erzkonservative Islamist Sayyid Qutb widerwillig einräumte. Diese Studien öffneten ein statistisches Fenster auf das sehr private Leben von Amerikanern, und das in einer Weise, die das öffentliche Verständnis des Sexualverhaltens grundlegend veränderte. Die Leute konnten nicht länger behaupten, vorehelicher Sex, gleichgeschlechtliche Beziehungen und Masturbation seien abweichende Verhaltensweisen am Rande der Gesellschaft, nachdem Kinseys Studien, bei denen er Tausende ihrer Mitbürger befragte, gezeigt hatten, dass es sich um weitverbreitete Aktivitäten handelte.
Kinsey glaubte mit allen Fasern seines Herzens, das Wissen werde Menschen von Schuldgefühlen und dem Unglück befreien, die durch die Kultur des »Schweigens und Verstellens« der amerikanischen Gesellschaft, wie es einer seiner Zeitgenossen nannte, verursacht würden. Trotz ihrer methodischen Mängel sorgten seine Studien dafür, dass in der Öffentlichkeit ganz anders über Sexualität diskutiert wurde – sie war nicht länger ein anrüchiger Gegenstand von Moralpredigten, sondern ein Thema, das auf der Basis wissenschaftlicher Fakten sachlich erörtert wurde. Kinsey ermöglichte es, auf seriöse Weise über Sex zu reden. Obwohl seine Ergebnisse und Schlussfolgerungen auf erheblichen Widerstand stießen, ebneten seine Studien langfristig den Weg zu einem Einstellungswandel. Wie einer seiner Kollegen bemerkte: »Die Zeiten änderten sich sowieso, aber ich glaube, er hat dazu beigetragen, dass sich die Zeiten änderten.« 4
In Ägypten sind heute zahlreiche Wissenschaftler gewillt, eine solche Veränderung zu beschleunigen. Aber es ist für sie schwierig, eine formale Ausbildung oder die Genehmigung von Universitäten oder Ministerien für großangelegte Studien zu erhalten, und selbst wenn sie grünes Licht bekommen, bleiben die Ergebnisse oftmals unter Verschluss. Diese Kultur der Verschleierung – nicht nur in sexuellen Fragen – wird noch verschlimmert durch die mangelnde Kooperations- und Mitwirkungsbereitschaft von Individuen und Organisationen, vermutlich ein Nebenprodukt des allgemeinen Klimas von Argwohn und Misstrauen und der Mentalität von »jede Familie für sich«, das durch jahrzehntelange politische Repression geschaffen wurde. Daher sind Forscher und Aktivisten damit beschäftigt, das Rad neu zu erfinden, da sie keine Kenntnis von den hervorragenden Studien haben, die in der Region oder sogar in derselben Stadt durchgeführt werden.
Die Förderung der Forschung und des offenen Austauschs von Informationen ist der Schlüssel zum neuen Denken. Es beginnt mit Wörtern – der Erneuerung des Arabischen als einer Sprache der
Weitere Kostenlose Bücher