Sex und Folter in der Kirche
unterworfen.63
Der berühmte Bologneser Kirchenrechtslehrer Gratian, dessen
Sammelwerk sieben Jahrhunderte der Kirchengeschichte überdau-
ern sollte, knüpfte im zwölften Jahrhundert an eine durchaus vorhandene folterunwillige Tradition der Kirche an. Doch nannte er Ausnahmen, die bei der praktischen Bedeutung seines Werkes ihre Konsequenzen haben würden: Gefoltert werden konnten die An-kläger eines Bischofs, Personen aus den niedrigsten Schichten und Sklaven.64 Alle Menschen gleich zu achten und aus dieser Achtung entsprechende Folgerungen für alle zu ziehen, dazu war die kirchliche Praxis nicht in der Lage.
Definition bleibt eine Frage der Definitionsmacht. Diese wird besonders aktiv, wenn schwere Krisen auftreten oder als Nutzkri-sen herbeigeredet65 werden können. In solchen Fällen richtet sich die Wut der Masse auffällig gern und oft gegen jene, die ihr als Außenseiter definiert wurden.66 Welcher Mensch, welche Interes-sengruppe kann eine Definition, die immer eine zeitgeistige, nicht zeitlose Abgrenzung, Grenzziehung, Selektion darstellt, gegen andere Auffassungen durchsetzen? Wer findet eine Mehrheit für seine Interessen? Wer kann behaupten, diese seien gesellschaftlich, staatlich, kirchlich opportune Werte?67
Die Rezeptur ist religiös vielfach erprobt. Vor allem in der abendländischen Geschichte schraubte sich die kleine Spezies Chri-
stenmensch zum Wertmaß der Dinge68 hoch: Zunächst wird der
Mensch oder die Gruppe von Menschen, die sich und ihr Ideal
durchsetzen wollen, die ihnen nicht ins Kalkül passenden älteren 27
Ideale bei den Menschen verleumden. Dann müssen sie den eigenen Typus als Wertmaß überhaupt ansetzen, an dem alle Dinge, Entwicklungen, Geschicke gemessen werden. Gelingt es ihnen gar, die eigenen Vorgaben als Gottes Willen oder, zusammengenommen,
als »Gott« selbst zu etablieren, haben sie gewonnen. Denn nun ist es möglich, sich das Recht anzumaßen, zu segnen und zu verfluchen, und die Macht auszuüben, alle Gegner des eigenen Ideals als Gegner Gottes auszugeben und entsprechend zu verfolgen. Schließlich können sie alles Leid, alles Unheimliche, Furchtbare, Verhängnis-volle des Daseins aus der Gegnerschaft gegen ihr eigenes Ideal ableiten und die einschlägigen Konsequenzen fordern. Und als
letzte Infamie vermögen sie die ganze Entwicklung weiterzuleben in eine Zukunft hinein, da ihr Sieg als Sieg der Guten sich offenba-ren wird: im Endgericht über alle Bösen dieser Welt, die allein deswegen böse waren und blieben, weil sie sich ihrer Macht nicht beugten.
Nicht nur nebenbei: Definitionen leben ebenso von den in ihnen bewußt versteckten Opferdeklarationen wie von jener Akzeptanz eines Opferstatus, die ein Oben und ein Unten erst ermöglicht.
Solche Opfer sind die als abweichend definierten Mitmenschen —
und die Tiere und Pflanzen sowieso. Denn diese können sich nicht gegen ihre Deklaration als Opfer des Menschseins wehren. Ihnen fehlt ja, so die Definition, jede vernünftige Fähigkeit. Daß den als seelenlos definierten Pflanzen und Tieren sogar die Schmerzempfin-dung abgehe, war christliche Doktrin. Andere Religionen sind wieder einmal stark abweichender Ansicht.
Spätestens an dieser Stelle muß gefragt werden, was der Mensch sei oder sein dürfe, solle, müsse. Es handelt sich hier, unschwer zu erkennen, um die in bestimmten Kreisen beliebte Sinnfrage, die jene gern stellen, die umgehend mit ihrer Antwort zur Hand sind. Nun, die Antworten auf diese an sich und seinesgleichen gestellte Frage kommen nicht ohne einen simplen Trick aus: Sie müssen differenzieren, sich unterscheidend abheben von allem, was das Prädikat Mensch nicht verdient. Was bleibt da noch viel anderes als das Tier
— und, nicht weniger inhuman, jene Menschen, die schon im Neuen Testament69 mit Tieren verglichen werden? Gering Denkende und Fühlende packen ihre Unzulänglichkeiten ins Tier, und Bischöfe vergessen über ihrer Rede zur Menschenwürde das Mitgeschöpf
auf vier Beinen. Doch: Menschen kann man, Tiere muß man lieben.
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Gleichwohl: Der Mensch heißt das allein mit Vernunft begabte
Lebewesen, aber auch, je nach Standort der Definierenden, das kochende, das lachende, das betende Tier.70 Schließlich wurde noch kein Tier entdeckt, das lachen oder kochen oder beten kann (und zudem dies alles zusammen) — und das sich auf derlei etwas einbil-det. Ich schlage vor, mit nicht weniger Recht, den Menschen als das folternde Lebewesen zu definieren. Denn diese
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