Sex und Folter in der Kirche
unter anderen bleibt der einzelne unbe-merkt. Gewissen, Scham, Widerstand können unter solchen Um-
ständen nicht eingefordert werden; die Frage stellt sich nicht.
Nur ein kleiner Schritt ist es von diesen Beobachtern hin zu den begeisterten Zuschauern. Diese applaudieren dem furchtbaren Ge-32
schehen, treiben an, stacheln auf, begrüßen ausdrücklich die Gewalt. Sie eilen nicht nur zum Tatort, sie verlangen die besten Plätze am Sockel des Schafotts. Viel gäben sie, auch bei den Folterungen dabeizusein. Auf den alten Tafelbildern, die die Passion Jesu oder die Folterung eines Heiligen wiedergeben, füllen sie den Hintergrund, bis zum letztmöglichen Zentimeter.
Zögern die Ausführenden, sind es solche Zuschauer, die sie
anfeuern. Nicht selten helfen sie mit, völlig freiwillig, unberufen, unverpflichtet, den Scheiterhaufen aufzuschichten, Holz nachzulegen, das verglimmende Feuer wieder anzufachen.76 Sie stehen nicht
mehr am Rand. Sie rücken so nah ans Geschehen heran wie mög-
lich, bilden einen geschlossenen Kreis um das Opfer. Ihr Beifall entfesselt die Gewalt, stützt und legitimiert sie als des Volkes Stimme. Der wahre Täter ist nicht der Folterknecht, nicht der professionelle Henker, sondern die anonyme Menge der Zuschauer. Dieses »Medium, durch das sich die Gewalt verbreitet«, macht den Täter selbst zu ihrem Teil und nimmt ihn, nach vollbrachter Tat, wieder in ihre Mitte auf. Bis zum nächstenmal, da sie ihn nach vorne schickt.
Meldung 1993: Als in der osttürkischen Stadt Sivas islamische Fundamentalisten ein Hotel anzünden, in dem eine Versammlung
von Rushdie-nahen Schriftstellern stattfindet, sterben sechsunddreißig Menschen, und sechzig werden zum Teil schwer verletzt.
Eine wütende Zuschauermenge hindert die Feuerwehr daran zu
löschen und treibt diejenigen, die aus dem Haus flüchten wollen, zurück in die Flammen.77
Wir sollten uns nicht täuschen und nicht täuschen lassen: Zu-
schauen ist menschliche Befindlichkeit. Das Publikum der Gewalt bleibt nicht mittelalterlich. Es tritt aus den alten Holzschnitten heraus mitten in unsere Gegenwart. Die Empörung über Gewalt ist dagegen eine relativ junge Haltung unter Menschen. Sie wurde
gewiß durch die Betroffenheitskultur78 der letzten Zeit gefördert und gehört mittlerweile zu den moralischen Haltungen, die die moderne Zivilisation von den Zeitgenossen fordert. Wer allerdings ihre Tiefenwirkung überschätzt, statt sich über die hauchdünne Schicht der Zivilisation im klaren zu sein, die das allgemeine Gewaltbedürfnis überdeckt, betrügt sich selbst. Zudem beurteilt er jene vielen unrichtig, die nach wie vor, unverdrossen wie eh und je durch den Bildschirm auf das Unfaßbare glotzen, ohne daß die
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leiseste Spur von Mitgefühl, Entrüstung, Verantwortung ihr Zuschauen störte. Die bloße Evokation des Entsetzens dringt nicht durch das dicke Fell. Ob dies einer Aufklärung über die Sachverhalte des Grauens gelingt, bleibt fraglich.
Meldungen 1993: Geschminkte Schnittwunden, Hautabschür-
fungen und Blutergüsse gehören im Nachtleben Großbritanniens
zu den gefragteren Outfit-Details: »Es ist toll, wenn Leute dich angucken, als ob sie sich gleich übergeben würden.«79 Pro Jahr werden auf der Erde dreiunddreißigtausend Studien über menschliches Verhalten erstellt; Folterberichte gehören sehr selten dazu.
Voyeure aller Arten schauen nicht nur durchs schlimme Schlüs-
selloch, sondern liegen unter dem Fenster, gucken vom Balkon: Was passiert? Wie passiert es? Wem passiert es? Ecouteure, das Ohr ans Geschehen gelegt, beanspruchen gleich daneben ihren Stammplatz. Passieren, alle Jahre wieder, schrecklichste Autobahnunfälle im Nebel, klagt die Polizei regelmäßig über Schaulustige, die die Arbeit der Lebensretter behindern. Was sind Schaulustige anderes als Voyeure, mögen sie sich auch noch so sehr gegen diese eine Art bürgerliche Perversion anzeigende Vokabel wehren? Voyeure lassen sich ebensowenig wie Exhibitionisten80 in isolierbar perverse Grüppchen abdrängen und vom Hochsitz der Normalität herab als Sonderlinge begaffen; sie stellen die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft. Ohne ihre stillvergnügte Mitwirkung wäre gerade Folter nicht perfekt zu handhaben.81
Voyeure sind Experten des schrägen, scheelen Blicks: Sie schauen nicht direkt, bewußt, gerade hin, sondern seitlich, versteckt, leicht verschämt. Immer aber gucken sie so hin, daß sie möglichst viel mitbekommen, ohne selbst irgend etwas
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