Sex und Folter in der Kirche
hervor, daß es Menschen mit der Zeit einfach zuviel wurde, andere von Amts wegen leiden zu machen oder ihrer Qual zuzusehen.273 Wieder andere argumentieren zugunsten einer aufgeklärteren Rechts-philosophie, also neuer Vorstellungen von den Rechtsgütern des einzelnen Menschen, die gegen obrigkeitliche Gewalt zu schützen waren. Ein abschließendes Urteil erscheint noch nicht möglich.
Verweisen Juristen allerdings auf die zunehmende Individualisierung der Person und die daraus folgende Festlegung des Schuld-gedankens,274 so wird man kaum fehlgehen, wenn man diese
Entwicklungen nicht dem Guthabenkonto des Christentums und
seiner Kirchen gutschreibt. Dasselbe gilt für den gegen die Kirchen erkämpften Grundrechtsschutz des einzelnen vor obrigkeitlicher Gewalt,275 und auch für die zunehmende Solidarisierung der Menschen mit jenen einzelnen, die der Folterung und Bestrafung durch staatliche und kirchliche Amtspersonen ausgesetzt waren.276
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Gewiß schwand die peinliche Befragung allmählich,277 ein Reise-führer durch Nürnbergs Sehenswürdigkeiten von 1784 bezeichnete die Eiserne Jungfrau bereits als »abscheulich Greulwerk«, das auf die Zeiten Kaiser Barbarossas zurückgehe, eine Fehleinschätzung um beinahe vierhundert Jahre.278 Dennoch konnten in Deutschland noch 1788, auf dem Höhepunkt der Aufklärung, kurz vor der
Französischen Revolution, Gerichtsurteile gesprochen und vollzo-gen werden, die Vierteilen, Brechen der Knochen, Abschneiden von Zungen und Händen beinhalteten. Solche Strafmaße gelten den Christen gern als mittelalterlich, als sei das europäische Mittelalter eine buddhistisch beeinflußte Epoche gewesen! Doch sie waren im größten Teil des katholischen Europa, besonders in Spanien,
Bayern, Österreich, Italien, gesetzlich in Kraft.
Schwamm darüber? War nichts institutionalisierte Sünde, blie-
ben die ungeheuren Vergehen gegen Leib und Leben individuelle Verirrungen? Wem soll einleuchten, daß allein Folter und Todesurteil Ausfluß eines von der Christenheit längst überwundenen Zeitgeistes gewesen sein sollen, während andere Verfehlungen, vor allem sexuelle, unbeirrt als zeitlose Sünden gelten und nach wie vor bestraft werden? Galt nur das sechste, gegen sexuelle Vergehen gerichtete Gebot immer und überall, während das fünfte, »Du sollst nicht töten!«, für Jahrhunderte von Amts wegen außer Kraft gesetzt werden konnte?
Die Frage der Bereicherungskriminalität schneide ich noch nicht einmal an. Es genügt der Hinweis, daß aus Menschenblut Gold
gemacht279 und bei inquisitorischem Vorgehen an erster Stelle auch das Vermögen der Opfer zugunsten der staatlichen und kirchlichen Instanzen eingezogen wurde.280 Mit der Zeit kam einiges zusammen,281 und nicht in jedem Fall kann der Besitz der heutigen Kirche auf Schenkungen zurückgeführt werden. Alles bekannt? Alles verdrängt? Die Gegenwart freigesprochen?
Meldung 1994: Deutsche Bischöfe machen auf Veranlassung des Vatikans Generalinventur,282 lassen den Gesamtbestand ihrer Kirchenschätze erfassen und bewerten. Was bisher bei dieser äußerst kostspieligen Aktion herauskam? Allein die Diözese Regensburg schätzt ihren Bestand auf zweihunderttausend Wertobjekte; das Erzbistum München-Freising weiß sich im Besitz der größten Sammlung von Meßkelchen aus Augsburger Silber. Es sollen zehntausend sein; dies ergäbe einen Wert von etwa sechzig bis achtzig Millionen D-Mark.
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Grausame Wüste Sexualität
In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen
Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den
übrigen Teil zu verteufeln.
Friedrich Nietzsche
Eines Tages werden wir wissen, was es heißt, ein
ewiges Leben zu haben — wenn wir aufhören, zu
morden.
Henry Miller
Wir werden uns wohl oder übel darein schicken
und tun, was das Christentum nie getan hat: uns
der Verdammten annehmen.
Albert Camus
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Zensierte Theologie ist schnell mit Ausreden bei der Hand; das klassifiziert ihre Denker, Auftraggeber, Finanziers. Sie belegt die Inhumanen mit einem wissenschaftlichen Namen, als seien sie seltene Insekten, die in eine Vitrine abwandern. Da liegen sie, die Rigoristen und Grobianisten christlicher Geschichte. Sie bleiben zur Schaustellung abgeordnet, hinter sicherem Glas verwahrt, aufgespießt, abgehakt.1 Unsereins soll sie vergessen, Kirchenchristen leisteten, wie selbstverständlich, diese Vergessensarbeit bereits.
Sex and Crime mit Religion, mit christlicher Religion, gar mit christlichen Kirchen2
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