Sex und Folter in der Kirche
Ungeheuerlichkeiten wie Meinungs-, Glaubens-, Presse-, Gewissens- und Lehrfreiheit zuließ, dekretierte der 1903 verstor-bene Leo XIII., die unumschränkte Freiheit des Denkens und die öffentliche Bekanntmachung der Gedanken eines Menschen gehörten nicht zu den Rechten der Bürger. Wo blieb der Heilige Geist?
Verschlug ihm der kriminelle Unsinn die Sprache? Offensichtlich zog er es vor, sich ausgerechnet im Vatikan, beim unfehlbaren Papst, nicht zu erkennen zu geben. Offenbar war er anderweitig beschäftigt, vielleicht bei jenen, die gegen Rom für diese Rechte kämpften, die mittlerweile selbst von Johannes Paul II. gefeiert (und beansprucht) werden. Folgt man den Papstreden der Gegenwart,33
könnte man, beeindruckt von vielen Vokabeln der Versöhnung,
meinen, mittlerweile sei alles von Grund auf anders.
Gewiß, die Herde schluckt seit eh und je - die verheerendste
Folge klerikaler Predigt, die die Gewalt über die Köpfe und die Herzen als Voraussetzung für politische Macht braucht. Daher galt die sogenannte Abweichung vom Glauben, wie ihn Kirchenfürsten von Fall zu Fall lehrten, von Anfang an als schlimmste Verfehlung.
Abweichung (Apostasie, Ketzerei, Hexerei) brachte Spaltung, Mit-gliederschwund, Machteinbuße. Ihr mußte über Jahrhunderte hinweg mit härtesten Strafen begegnet werden: mit Gewissensqual, Folter und Tod. Noch heute ist sie mit dem automatisch eintreten-den Kirchenbann belegt.34 Damit wird sie vom Kirchenrecht des Papstes Johannes Paul II. schärfer bestraft als Mord und Totschlag.35
War es das schon? Kann das alles gewesen sein? Bewirkte das
Christentum in den zweitausend Jahren seiner Machtausübung
nicht mehr? Änderte es die Menschen, unsere Welt, oder machten seine Ideologie und Praxis immer nur alles viel schlimmer? Die Fragen treffen christliche Predigt und Praxis ins Mark. Kein Wunder, daß sie verhältnismäßig selten gestellt und so gut wie gar nicht beantwortet werden. Welche Aufgaben haben eigentlich die christlichen Kirchen? Die Diskussion über den Kindermord von Liver-
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pool (Fall Bulger) führte in der britischen Öffentlichkeit zu einer Auseinandersetzung über die Moral der Jugend, und Politiker griffen die Kirchen an. Diese sollten, so ein Minister im November 1993, weniger die sozialen Fragen angehen oder sich um Woh-nungsprobleme kümmern, sondern sich den fundamentalen Frage-
stellungen um Gut und Böse zuwenden. Dieses Ansinnen wurde
von Kirchenführern als »bizarr unfundiert und unbillig« zurückge-wiesen, und der katholische Bischof von Liverpool bescheinigte dem Minister Ihrer Majestät eine erstaunlich selektive Wahrnehmung.36
Ich lasse es dabei bewenden. Ich wende mich nicht dem Einfluß der Kirche auf den Wohnungsbau zu, übergehe die soziale Frage und ihre Lösung auf katholisch37 und nenne statt dessen das eine oder das andere Beispiel für die angemahnte prinzipielle Auseinandersetzung um Gut und Böse, wie sie in der christlichen Religion geführt wurde und wird. Die Beispiele, deren Themen in den folgenden Kapiteln ausführlich aufgegriffen werden, beschäftigen sich, was sofort einsichtig werden wird, keineswegs mit Randfragen der Religion. Sie folgen keiner selektiven Wahrnehmung. Daß sie, vom Zentrum einer gesellschaftlich und politisch höchst effizienten Glaubensanschauung her, das Folterproblem betreffen, liegt im Wesen solcher Religion selbst begründet.
Der Teufel im frommen Detail
Auffällig zunächst, daß kaum eine der vollkommen guten und
liebenswerten Gottheiten, die sich Menschen ausdachten, ohne
Wohlgefallen an den Leiden und Opfern der Menschen auskam.38
Wer sich gar dem Kirchen-Gott des Abendlandes verschrieb und
glaubte, was die Theologie der Jahrhunderte lehrte, bekam es mit einer Art höchst anspruchsvoller Rache-Gottheit zu tun, die selbst heute nicht ausgedient hat:39 Für die Guten, die sich ein Leben lang
— vor allem sexuell — kasteiten, stand der Himmel bereit. Von diesem aus konnten sich die Seligen, so der größte Theologe der Kirche, Thomas von Aquino, geradezu satt sehen an der Höllenqual der Menschen auf der anderen Seite, also der Bösen: Die bis ins Detail sadistisch geschilderte Marter, die Teufel im Auftrag des lieben Gottes vollführten, verdoppelte die Seligkeit der Gerette-55
ten.40 »Hölle«, das geht auf die gemeingermanische Wurzel »hel-«
(verbergen, verhehlen)41 zurück: ein Ort, an dem die anderen versteckt werden können, ein heimlich-unheimlicher Folterkeller, den Gute sich
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