Sex und Folter in der Kirche
(besonders das Auspeitschen)
waren vom islamischen kanonischen Recht nie aufgegeben wor-
den; ihre Wiedereinführung bedeutete den Sieg der Theokratie. Die völlige Wiederherstellung der Scharia, des islamischen Religions-rechts, mit seinen »Qissas«, den Amputationen wegen Diebstahls, dem Auspeitschen wegen sexueller Verfehlungen, der Steinigung wegen Ehebruchs und so fort, ist ein Ziel des religiösen Willens, der sich politisch mehr und mehr artikuliert.24
Niemand werfe den ersten Stein. Denn kein Zeitgenosse kann
sich damit zufriedengeben, daß es auch rabbinische, islamische, hinduistische, buddhistische Höllen gibt;25 unsere abendländischen sollten genügen. Verantwortung darf nicht an andere weiterge-reicht, auf andere abgeschoben werden. Folterungen entwickeln freilich ihre eigene scheußliche Dynamik. Sie werden gegenwärtig zu einem globalen Schauspiel, zu einer Art Trost für die zivilisierten Nationen und Religionen, denen sie die fortdauernde Barbarei der anderen Welt beweisen: die einer sogenannten Dritten Welt, die nicht allein zum Schauplatz der Folter wurde, sondern auch »das Spektakel bietet, daß der andere für uns gefoltert wird«26.
Doch wir können uns nicht satt sehen, nicht ausnehmen. Ein
erster Hinweis: Was in einzelnen islamischen Ländern passiert, verübten Christen überall, über Jahrhunderte hinweg, und nicht nur mit kirchenoffizieller Duldung, sondern in amtlichem Auftrag, mit höchster Protektion, in allerhöchster Gnade. Mittlerweile besserte sich die europäische Praxis; sie kommt gegenwärtig ohne 52
religiös legitimierte Folter aus. Doch blieb die folternde Christenheit ganze Jahrhunderte lang ohne Beistand des Heiligen Geistes? Fand sich kein Gott, der die zu Folter und Mord anstachelnden, diese Verbrechen honorierenden Bischöfe und Päpste auch nur einmal die Grundzüge der Menschlichkeit gelehrt hätte?
Bevor sich Christen allzu intensiv um eine künftige Weltethik sorgen, an der sie wieder ihren Anteil beanspruchen, sollten sie sich um solche Probleme kümmern. Es ist zu simpel, sich über den
Mordbefehl gegen Salman Rushdie und über das - an der Schwelle zum dritten Jahrtausend! - ausgesetzte Millionenkopfgeld zu erregen, die Lautsprecher des Abendlandes durchbrennen zu lassen, die Überlegenheit christlicher Theorie und Praxis über den Islam ein weiteres Mal zu bekunden - und darüber zu verdrängen, daß »das Blut, welches die Bekenner des Gottes der Barmherzigkeit und des Friedens seit der Einführung seiner Religion vergossen, genügen würde, um die Anhänger aller anderen Sekten, die jetzt auf der Erdkugel wohnen, zu ersäufen«27.
Der als Religionskritiker viel zuwenig bekannte Mark Twain
stellte trocken fest, daß »alle fähigen Kopfjäger Christen sind«28.
Die christliche Welt schreit jedoch auf, wenn »der Islam« im Fall Rushdie und über diesen hinaus soviel Intoleranz, Terror, Glau-bensfanatismus, Zwangsmissionierung beweist, während das Christentum Frieden verkündet, Freude, Frohbotschaft, zumal es auf den edelsten (wenn auch nicht von ihm selbst erdachten29) Lehren der Menschheit beruht, auf Nächsten- und Feindesliebe. Doch
trugen allein Christen weiße Westen? Oder versahen sie längst die Frohe Botschaft mit ihrer Kriegsbemalung? Stellt das Christentum theoretisch die friedlichste, praktisch die blutrünstigste Religion dar, während der Islam theoretisch die intoleranteste, praktisch aber die toleranteste Religion war?30 Erprobte die abendländische Religion das Motto: »... da das Christkind, dort Kanonen, da die Bibel, dort Pulver, da ›Liebet einander‹, dort ›Bringt sie um, Gott will es‹, stets mit gleicher Überzeugungskraft gepredigt und gleicher Perfektion, mit fast schon imponierender Schamlosigkeit« ?
Sicher ist, daß der Fall Rushdie nicht der Präzedenzfall ist, der uns eingeredet werden soll. Er hat im Christentum ungezählte
Vorläufer. Es gab unleugbar viele Vorstufen und Varianten, wie nicht nur die Geschichte der Zensur31 und der Bücherverbrennung beweist, sondern auch die der Gewissensfolter (»Sünde«), der
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Kopffolter (Denkverbot, Gehirnwäsche) und der Körperfolter.
An dieser Stelle ein Hinweis: Nicht zufällig, sondern konsequent verdammten noch Päpste des neunzehnten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung die Forderung nach dem Menschenrecht der
Gewissensfreiheit als Irrsinn32, verurteilte Papst Pius IX. die österreichische Verfassung von 1867 als unsagbar abscheuliches Gesetz, weil sie
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