SGK264 - Im Wartesaal der Leichen
einer Kollegin abgelöst.
Die beiden Söhne waren als Rikschafahrer unterwegs; bis sie nach
Hause kamen, war es meistens sehr spät.
Sein Bruder, der ein steifes Bein hatte, war für die Arbeit auf
dem Dach nicht zu gebrauchen.
Es lag mal wieder alles bei ihm allein.
Kaum vor der Haustür angekommen, frischte der Wind auf, und es
rauschte in den Bäumen, als ob dort tausend Dämonen versteckt seien.
Chan Tsu stellte sein Fahrrad an der Hauswand ab, trommelte mit
beiden Fäusten gegen die Tür und rief: »Die Leiter! Schnell! Ich muß noch
versuchen, die Sache in Ordnung zu bringen, ehe es erst richtig losgeht .«
Seine Frau öffnete ihm, hatte seinen Zuruf verstanden und lief
durch den Korridor zu einer Hintertür auf der Rückseite des Hauses, wo ein
klappriger Holzschuppen angebaut war.
Darin befanden sich die Gartengeräte, Kisten und Kasten und
allerlei Gerümpel, von dem Chan Tsu meinte, daß er es irgendwann eines Tages
gebrauchen könne.
Vom verrosteten Fahrrad, das weder Felgen noch Räder hatte, bis
zum ausgebauten Bootsmotor wurde hinter dem Haus und im Schuppen alles
aufbewahrt.
Die Leiter war im Nu an die Hauswand gestellt. Chan Tsu kletterte
sofort auf das Dach, mit dem notwendigen Arbeitsgerät bewaffnet.
Der Wind pfiff um seine Ohren, Donnergrollen hallte durch die
Luft, und riesige Blitze spalteten den schwarzen Himmel über der Silhouette der
Betonhäuser, die jenseits des Erdwalls begannen.
Chan Tsu stellte fest, daß es höchste Zeit war, die Reparatur in
Angriff zu nehmen. Der Wind hatte zwei weitere brüchige Dachziegel gelockert,
und das Loch war inzwischen so groß, daß Tsu eine halbe Hand hineinstecken
konnte.
Er rückte die verschobenen Ziegel zurecht und warf einen
beunruhigten Blick zum Himmel, als schwere Tropfen auf das Dach klatschten.
Chan Tsu sah ein, daß er sein Vorhaben nicht mehr in die Tat
umsetzen konnte. Er mußte sich mit notdürftiger Flickarbeit zufriedengeben und
warten, bis das Unwetter vorüber war.
Im Haus wurden alle Fenster geschlossen. Er hörte leise Stimmen
aus den Zimmern unter dem Dach zu sich empordringen.
Einen Moment war es ihm, als vernähme er, wie jemand gegen die
Leiter stieß.
Tsu war überzeugt davon, daß es mit dem Wind zusammenhing. Es war
wohl kaum damit zu rechnen, daß jemand bei diesem Wetter zu ihm aufs Dach
stieg.
So wandte er nicht mal den Kopf und beeilte sich, mit hastigen
Bewegungen sein Flickwerk zu Ende zu bringen.
Als er merkte, daß sich doch jemand außer ihm noch auf dem Dach
befand, war es schon zu spät.
Chan Tsu sah den Schatten neben sich und wandte den Kopf. Seine
Augen wurden groß vor Erstaunen, als er sah, wer da vor ihm stand. Sein Mund
öffnete sich zu einem leisen, erschreckten Aufschrei.
Dann folgte auch schon der Stoß.
»Aaaggghhh!« Der Schrei des Chinesen gellte aus dem weit
aufgerissenen Mund. Chan Tsu reckte die Arme empor, versuchte einen Halt zu finden, rutschte über das Dach und fiel schwer wie ein Stein in
die Tiefe.
Mitten auf dem First stand ein Mann mit wächsernem Antlitz und
kalten, leblosen Augen.
Es war Lee Tsu, sein Sohn!
»Was war denn das ?« entrann es Madam Tsus
zitternden Lippen.
Erst das dumpfe Poltern auf dem Dach, dann der Schrei - dann
tödliche Stille, die nur von dem unheimlichen Rauschen des böigen Windes
unterbrochen wurde.
Da war etwas passiert!
Die Frau stürzte aus dem Haus, und ein gurgelnder Aufschrei
entrann ihrer Kehle.
In verkrümmter Stellung sah sie ihren Mann auf dem Boden vor dem
Haus liegen.
»Kommt... schnell... helft mir !« rief
sie, ohne einen Blick zum Hauseingang zu werfen. Sie trommelte ihre ganze
Familie zusammen, und ihr Herz pochte wie rasend, während sie die letzten
Schritte zu dem reglosen Körper eilte, in der Hoffnung, daß nur alles halb so
schlimm wäre.
Chan Tsu stöhnte.
Auf seinen Lippen war blutiger Schaum, als er sprach. »Schafft
mich ins Haus, ich will in meinen eigenen vier Wänden sterben .«
»Du wirst nicht sterben«, schüttelte Tsus Frau heftig den Kopf.
Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie riß sich zusammen.
Vorsichtig legte sie den Arm ihres Mannes auf die Seite.
Chan Tsu verzog schmerzhaft das Gesicht und hielt die Augen
geschlossen, als hätte er keine Kraft mehr, die Lider zu heben.
»Wie konnte das nur passieren ?« fragte
die Frau leise. Mit zarter Hand streichelte sie sein erschreckend bleiches
Gesicht. »Mußtest du auch gerade bei diesem Wind aufs Dach steigen? Es hätte
doch Zeit gehabt .. .«
Der
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