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SGK264 - Im Wartesaal der Leichen

SGK264 - Im Wartesaal der Leichen

Titel: SGK264 - Im Wartesaal der Leichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larry Brent
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wissen. »Und nun laßt mich allein mit Mi, sie ist doch da, nicht
wahr ?«
    Seine Augen waren spaltbreit geöffnet. Dem Sterbenden war die
Anwesenheit seiner ältesten Tochter nicht entgangen.
    Alle anderen verließen das Zimmer. Chan war mit Mi allein.
    »Als ich vom Dach stürzte, habe ich dich gerade auf das Haus
zufahren sehen, du hast ihn wiedererkannt, nicht wahr? Genau wie ich, verzeih,
Mi! Ich habe dir unrecht getan, es tut mir leid .«
    »Es braucht dir nicht leid zu tun, Vater.
Meine Geschichte klang zu unglaubwürdig. Nur wenn einer es selbst erlebt, kann
er es auch glauben .«
    »Ich habe den anderen nichts gesagt. Lee ist wieder auferstanden,
als Gespenst. Er ist bösartig wie ein Dämon. Irgend etwas hat ihn gegen uns
aufgewiegelt. Er weiß nicht, was er tut. Lee lebt nicht mehr - und ist doch
mitten unter uns. Doch er kennt uns nicht mehr! Sprich mit niemand darüber,
behalte es für dich. Ich bitte dich darum .«
    »Ja, Vater«, entgegnete Mi Tsu schluchzend.
    »Rufe die anderen, es geht zu Ende. Ich möchte mich von allen
verabschieden .«
    Es war erstaunlich, wie sehr sich dieser Mann trotz seiner
Schmerzen unter Kontrolle hatte und mit unbändiger Willenskraft versuchte, sein
Bewußtsein - so lange es noch ging - klar zu halten.
    Weinend und leise traten die anderen ins Zimmer.
    Kerzen wurden entzündet, während draußen der Regen vom Himmel
rauschte und der Donner grollte, als wäre der Jüngste Tag angebrochen.
    In unmittelbarer Nähe schlug es ein, irgendwo im Haus zersprang
ein Fenster.
    Ebenso heftig und rasch, wie das Unwetter aufgezogen war,
verschwand es auch wieder.
    Die Wolkendecke riß auf, es hörte auf zu regnen, und die Sonne brach
hervor.
    Das Ende des Unwetters erlebte der Schwerverletzte noch.
    Trotz des Widerstandes ihres Mannes hatte Madam Tsu ihre jüngste
Tochter N'go losgeschickt, damit sie Dr. Len hole. Mit dem Fahrrad raste das
Mädchen los.
    »Ich will zurück in die Heimaterde meiner Väter«, murmelte Chan
Tsu mit schwacher Stimme. »Bewahrt meine sterblichen Überreste, solange dies
möglich sein wird, im Totenhotel auf. Im Wartesaal der Leichen ist ein Platz
für mich. Die Miete könnt ihr entrichten, ich habe entsprechende Ersparnisse
zurückgelegt .«
    Mit weitaufgerissenen Augen lag er da, aber er ließ nicht
erkennen, ob er jemand in der Runde noch erkannte.
    »Ich möchte irgendwann zurück nach China, und der Tag wird kommen,
wo alle Wartenden im Hotel diesen ihren letzten Wunsch erfüllt bekommen .«
    Es waren seine letzten Worte.
    Dr. Len kam noch hinzu.
    Er konnte nichts mehr tun, als dem Toten die Augen zu schließen
und die Kinnbinde anzulegen.
    Weinend umringten die Angehörigen den Aufgebahrten.
    Draußen vor dem Haus kam ein Auto an.
    Es wurde zweimal gehupt.
    Mi sagte, daß sie nachsehen wolle. Sie wisse, wer komme. Sie
erwartete Chang Li.
    Der junge Inhaber der Kung-Fu-Schule kam jedoch nicht allein. Su
Hang befand sich in seiner Begleitung.
    Chan Lis fröhliche Miene wurde sofort ernst, als er Mis verweintes
Gesicht sah.
    »Was ist denn passiert ?« fragte er, kaum
daß er sie begrüßt hatte.
    »Vater ist gestorben. Vor wenigen Minuten.«
    »Mein Gott«, entrann es Li. »Aber er war doch gar nicht krank .«
    »Ein Unfall. Er ist vom Dach gestürzt ... worden ...«, fuhr sie
fort und zögerte vor ihrem letzten Wort, als müsse sie sich erst überlegen, ob
sie es noch ausspreche. Mit leiser, gesenkter Stimme tat sie es schließlich.
    »Mord ?« fragte Chang Li sofort.
    »Wenn du so willst - ja .«
    Mi Tsus wunderte sich selbst, mit welch ruhiger Stimme sie sprach
und wie überlegen sie über den Dingen stand.
    Chang Li stellte seine Begleiterin vor. »Sie ist die beste
Schülerin, die je meine Schule besucht hat. Ich muß mich vor ihr in acht nehmen .«
    Trotz des Schmerzes, der Mi Tsu noch immer beherrschte, war der
Anflug eines Lächelns auf ihrem schönen Gesicht zu erkennen. »Eine Frau kämpft
immer mit anderen Waffen als ein Mann. Also wird er immer auch der Unterlegene
sein«, ließ sie diese philosophische Bemerkung anklingen.
    Chang und Su sagten, daß es wohl besser wäre, nach diesem
unerwarteten, traurigen Vorkommnis von der Einladung keinen Gebrauch zu machen.
    Doch davon wollte Mi Tsu nichts wissen.
    »Im Gegenteil! Ihr kommt gerade recht. Ich brauche jemand, mit dem
ich mich aussprechen kann. In meiner Familie ist niemand, zu dem ich solches
Vertrauen hätte, wie zu dir, Chang. Das weißt du. Es war seit jeher so gewesen
und wird sich

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