SGK284 - Nacht im Horror-Hotel
war Delibre geblieben?
Sie leuchte auf den Boden vor ihren
Füßen. Die Spuren im Staub waren unübersehbar. Erst kürzlich war hier jemand
gegangen, und eine Schleifspur wies darauf hin, dass die mannsgroßen Schrankkoffer verrückt worden waren.
Auf den vordersten ging sie zu. Der
Deckel war nur angelehnt, nicht verschlossen.
Auf eine eventuelle Gefahr gefasst , zog Claudine Solette den
Deckel langsam nach vorn. In ihren fast schwarzen Augen spiegelte sich das
Entsetzen.
Etwas fiel ihr langsam, beinahe wie in
Zeitlupe, entgegen. Dieses Etwas war groß wie ein Mann, stand aufrecht und
verlor durch den zurückschwingenden Deckel das Gleichgewicht.
Die weiße Leichenhand berührte fast
die zurückweichende Agentin.
Der Tote, der aus dem Schrankkoffer
vor ihre Füße fiel, war - Frederic Delibre !
*
Die machen dich hier fertig, hämmerte
es hinter ihren Schläfen. Du musst ihnen beweisen, dass sie dich zu unrecht hier festhalten. Die Krise ist
längst vorüber, aber sie erkennen es nicht. Sie halten dich fest wie eine
Gefangene - für alle Zeiten . ..
Die Frau, der diese Gedanken durch den
Kopf gingen, drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere und fand keinen
Schlaf.
Sie lag in einem freundlich
eingerichteten Dreibett-Zimmer.
Das Fenster zum Balkon war halb
geöffnet. Kühl und frisch wehte die Nachtluft herein.
Christine Louson atmete langsam und ruhig und lauschte dann in die Nacht. Die beiden
Zimmerkolleginnen atmeten tief. Sie schliefen fest.
Diese Nacht war günstig! Da hatte
Schwester Anais Dienst.
Christine hatte während der letzten
Wochen alles genau ausgekundschaftet.
Anais war die Geübte des Stationsarztes.
Sie hatte großen Einfluss auf den Mann. Wenn sie ihm
sagte, wie wirklich alles war, dann bestand wahrscheinlich die Chance, das
Ruder ihres Lebens doch noch mal herumzureißen.
Lautlos wie ein Schatten erhob sie
sich und verließ ihr Bett.
Sie trug über dem fein gewirkten Slip
nichts weiter als ein kurzes Hemd.
Christine schlich auf Zehenspitzen zur
Balkontür. Sie war weit genug geöffnet, um hinauszugelangen, ohne die Tür
weiter zurückschieben zu müssen. Dabei hätte die Gefahr bestanden, dass das Geräusch quietschender Scharniere sie verriet.
Sie hatte alles mit eiskalter
Berechnung und Logik vorbereitet. Aber wenn sie jetzt einen Fehler machte, dann
würde man nur sagen - mit der Logik einer Verrückten! Sie musste es schaffen, sie musste . .. wenn sie überzeugte, würde alles gut werden.
Auf dem Balkon standen große
Blumentröge. In einem von ihnen hatte sie ein großes Messer versteckt. Sie
hatte es eines Tages in der Küche gestohlen. Wenn man ein bisschen clever war, konnte man selbst im Irrenhaus Selbstmord begehen.
Aber das wollte sie nicht. Sie wollte
nur beweisen, dass die Krise vorüber war und man sie
bedenkenlos entlassen
konnte. Aber Dr. Laurent war
derjenige, der dieses Vorhaben torpedierte. Da er nur Augen für die hübsche Anais hatte, dieses mannstolle Weib, sah er nicht, wie sich
der Zustand seiner Patienten veränderte.
Und die Schwestern des Ordens, in
deren Händen früher die Leitung des Sanatoriums voll und ganz lag, waren mit
ihren pflegerischen Aufgaben voll beschäftigt. Sie bekamen nicht mit, was
zwischen Dr. Laurent und Anais , einer freien
Schwester, vorging. Die beiden verstanden es ausgezeichnet, ihre Beziehungen zu
tarnen.
Aber Christine hatte für so etwas
einen Blick...
Sie kehrte vom Balkon zurück und
durchquerte das Zimmer.
Anzuziehen traute sie sich nicht, aus
Furcht, beim öffnen der wackeligen Schranktür ein
Geräusch zu verursachen, das im letzten Moment ihre Pläne zunichte machte.
Sie musste so gehen, wie sie war. Sie störte sich nicht daran.
Christine Louson war hübsch. Sie hatte ein ovales Gesicht, eine hohe, glatte Stirn und trug im
Haar ein Band, um die nach vorn drängende Flut zu bändigen.
Sie hatte eine zarte Pfirsichhaut, für
ihren Geschmack etwas zu üppige Brüste und tadellos gewachsene Beine.
Die rehbraunen Augen der jungen
Französin befanden sich in ständiger Bewegung.
Das Zimmer, in dem Christine Louson untergebracht war, lag am Ende des Korridors, in dem
spärliches Licht brannte. Beides kam der Frau zugute.
Ohne zu zögern lief sie durch den Gang
und näherte sich der gläsernen Loge, in dem Schwester Anais saß, die in dieser Nacht auf der Station ihren Dienst verrichtete.
In den Zimmern war es still. Mit dem
Abendessen wurden den Kranken, die unter besonders großer Unruhe
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