SGK284 - Nacht im Horror-Hotel
litten, stark
dampfende Medikamente verabreicht. Da wurde keiner mehr in der Nacht wach. Auch
sie erhielt Abend für Abend diese Tabletten. Jede einzelne
aber hatte sie in der Toilette
hinuntergespült.
Schwester Anais - das lange, honigblonde Haar sah aus wie flüssiges Gold auf ihren Schultern -
saß am Tisch und blätterte in einem Magazin. Sie drehte der Richtung, aus der
Christine Louson kam, den Rücken zu. So sah sie die
heranschleichende Patientin mit dem Messer in der Hand nicht. Und als sie sie
bemerkte, war es schon zu spät.
Die Tür zum Korridor stand offen,
damit die dienstbereite Schwester jedes Geräusch mitbekam.
Christine Louson drückte die Messerspitze fest unterhalb des linken Schulterblattes gegen den
Körper der Frau.
»Keinen Laut«, zischte Christine Louson . »Ich stoß’ Ihnen sofort das Messer in den Leib ...«
»Christine! Sind Sie ...«
»Verrückt? Wahrscheinlich. Sonst wäre
ich nicht hier. Aber dass es nur ein vorübergehender
Zustand war, will ich Ihnen beweisen .«
»Aber Christine!« Die Stimme der
Schwester klang sanft. Nach dem ersten Schrecken hatte sie sich erstaunlich
schnell wieder gefangen. »Dafür bin ich doch nicht zuständig. Wenn Sie sich
gesund fühlen, wenn Sie den Eindruck haben, nicht mehr hierher zu gehören, dann
müssen Sie mit Dr. Laurent sprechen und ...«
»Das nützt nichts. Er hört mich gar
nicht an. Er hat nur Augen für Sie !« Christine Louson stieß es voller Triumph hervor und merkte, wie die
Schwester zusammenzuckte. Sie war verbittert und wollte verletzen.
»Ich nehme an, dass Sie besser mit ihm zurecht kommen .
Wenn Sie etwas sagen, wird er Ihnen glauben ...«
»Gut, Christine, ich werde mit ihm
reden, wenn Sie das wünschen. Aber nun müssen Sie auch vernünftig sein und das
Messer weglegen . ..«
»Sie reden mit mir wie mit einem Kind .. . Das ist nicht nötig. Sie brauchen keine Angst vor mir
zu haben, wenn Sie tun, was ich von Ihnen verlange. Sie wissen besser als manch
andere in diesem Haus, weshalb ich hier bin.
Ich möchte Ihnen zeigen, dass alles, was ich anfangs in meiner übererregten Phase
herausschrie, der Wirklichkeit entspricht. Wir fahren jetzt gemeinsam
dorthin...«
Anais wandte ein wenig den Kopf und
lächelte gütig. »Aber Christine ... das ist doch Unsinn! Mitten in der
Nacht...«
»Ja, mitten in der Nacht! Gerade da,
Sie sollen ihn auch sehen - meinen Onkel Louis ... Er spukt Tag und Nacht in
dem nach ihm bezeichneten Hotel. Ich könnte auch am Tag mit Ihnen dorthin
fahren...«
»Na also ...«
Wieder ließ Christine Louson sie nicht ausreden. »Tagsüber geht’s nicht. Da gibt
es zuviele , die merken, wenn ich mit Ihnen weggehe.
Das lassen die hier nicht zu. - Und nun kommen Sie mit, Schwester Anais ! Sie haben so ein schönes rotes Auto, es hat die
Farbe eines Himbeerbonbons. Deshalb nennen wir es auch so in unserem Zimmer. In
Ihrem Gefährt haben wir beide genügend Platz. Ich werde hinter Sie sitzen und
Sie mit meinem Messer kitzeln, damit Sie ständig daran erinnert werden, auch
die richtige Strecke zu fahren. Ich werde Sie lotsen .«
Auf Christine Lousons Befehl stand Schwester Anais auf. »Ich kann die
Patienten auf der Station nicht allein lassen«, wagte sie einen schwachen
Widerspruch.
»Für ein paar Stunden geht es. Sie
schlafen alle. Sie werden bis morgen früh durchschlafen. Die Mittel sind stark
genug. Also keine Widerrede!«
Christine Louson war entschlossen.
Die Bedrohte fühlte das. Sie blieb
sanft und ruhig, in der Hoffnung, einen Augenblick der Schwäche und
Unkonzentriertheit bei Christine Louson zu erwischen.
Doch die Patientin beging keinen
Fehler und wusste jeden Augenblick, was sie wollte,
welchen Weg Anais einschlagen sollte. Unbemerkt
verließen sie durch eine Hintertür das Anstaltsgebäude. Auf dem asphaltierten
Parkplatz standen einige Fahrzeuge.
Der himbeerrote Citroën 2 CV stand ganz außen.
»So ziehen Sie sich doch wenigstens
etwas über«, machte die Schwester unvermittelt den Vorschlag.
»Nein. Ich lasse Sie keine Sekunde aus
den Augen ...«
Die Schwester schloss auf Geheiß den Wagen auf und musste sich ans Steuer
setzen, während Christine Louson mit unverändert
festem Druck das Messer in ihre Seite presste .
Sie ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie bereit war, einen Mord zu begehen, wenn die
Schwester sich ihrem Willen nicht beugte.
Die Bedrohte rutschte auf den
Beifahrersitz, weil Christine Louson sie dazu zwang.
Ohne das Messer abzusetzen, platzierte die
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