Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
Ohne ihn noch einmal anzusehen, nahm sie die Hand von Silverwests Diener und ließ sich die Stufen hinunterführen. Rourke folgte ihr.
Im Inneren des Herrenhauses schlenderte eine Anzahl von Menschen aus dem Dorf und dem hiesigen Landadel umher; das Haus war in Größe und Dekor erheblich prächtiger als die Burg. Wie Rourke vorhergesagt hatte, erschien Silverwest berauschend charmant und warmherzig und ging mit Selene am Arm davon. Mrs Thrall ihrerseits eroberte sich Rourkes Arm und zog ihn von einer Person zur nächsten, um ihn jedem förmlich vorzustellen, dem er noch nicht begegnet war. Alle reagierten begeistert, und es war klar, dass sie sie mochten. Ihr glänzendes Haar streifte ihn immer wieder, aber aus irgendeinem Grund erzielte sie damit die gegensätzliche Wirkung auf ihn, als es alle anderen blonden Frauen bisher getan hatten.
Mrs Thrall war wie ein Mundvoll Zucker. Zu süß. Zu exzessiv. Wenn sie ihn anlächelte, schmerzten sogar seine Zähne. Es stand außer Frage: Er hatte seinen Gefallen an gesichtslosen Blondinen verloren.
Weil er Selene liebte.
Eine leise, energische Stimme in seinem Kopf machte es ihm auf erschreckende Weise klar. Rourke schloss die Augen und atmete aus, unterdrückte ein stummes Leugnen.
Er ließ sich auf einen Ehrenstuhl neben dem Klavier drücken, wo Mrs Thrall, nachdem sich Mr Silverwest aufgestanden war und über ewige Freundschaft schwadroniert und ein paar Zitate längst verstorbener Dichter zum Besten gegeben hatte, auf die gepolsterte Klavierbank setzte und mit einem Crescendo auf den Tasten ein Lied zu trällern begann.
Liebe.
Bis jetzt hatte er es geschafft, jeden Anflug dieses gefährlichen Gefühls von sich fernzuhalten. Er hatte sich sogar vorgemacht, dass ihre Beziehung, wenn es mit Selene weiterging, einfach als »intensiv, aber vorübergehend« bezeichnet werden konnte. Noch einmal vergegenwärtigte er sich die Erinnerungen der vergangenen Wochen. Jedes Lächeln, das auf ihrem Gesicht erschienen war. Jeder Kuss, den sie einander gegeben hatten.
Irgendjemand sagte seinen Namen.
Er blinzelte und sah Selene an. Wie viel Zeit war vergangen?
Von ihrem Platz neben Silverwest lächelte sie ermutigend. »Ich sagte, hat Mrs Thrall nicht die liebreizendste Stimme?«
Das Lied, so schien es, hatte geendet.
»In der Tat.« Er zwang sich, den Blick auf Mrs Thrall zu richten. »Liebreizend. Danke, dass Sie uns das Geschenk eines Lieds gemacht haben.«
Er knirschte mit den Zähnen.
Danke, dass Sie uns das Geschenk eines Lieds gemacht haben.
Wer sagte solche Dinge? Aber Selenes Lächeln wurde breiter, und ihre Augen leuchteten warm vor Freude. Anscheinend gefiel ihr seine lächerliche Antwort, oder zumindest amüsierte sie sie.
Von ihrem Platz auf der Bank musterte Mrs Thrall ihn eindringlich.
Er hatte sie natürlich schon vorher angesehen, ihr Haar und ihre Nase und ihre Stirn, aber er hatte niemals wirklich
sie
angesehen.
Eigenartigerweise hatte sie nicht die geringste mentale oder emotionale Ausstrahlung. Sie war schön, doch wie polierter Stein. Ihre leuchtend blauen Augen glitzerten, aber jenseits der hellen Iris schien da nichts zu sein als Leere.
»Alle mal herhören«, rief Mr Silverwest und stand von seinem Stuhl neben Selene auf. »Ich habe eine besondere Ankündigung zu machen. Wie sie alle inzwischen gewiss erkennen können, habe ich eine starke Zuneigung zu meiner liebreizenden Nachbarin, der Gräfin Pawlenko, entwickelt. Vielleicht ist es anmaßend von mir, aber einem Instinkt folgend, wie Männer es so oft tun müssen, habe ich hier eine sehr … wichtige Frage gestellt …«
Ein genüssliches Grinsen ließ seine Mundwinkel nach oben wandern. Das aufgeregte Gemurmel der versammelten Gäste wogte durch den Raum. Rourke stockte das Herz.
Silverwest nickte und hob die Hand. »Ich habe die Gräfin gefragt – und zu meiner großen Freude hat sie
zugestimmt
…« Wieder hielt er neckisch inne.
Die allgemeine Aufregung verstärkte sich, und die versammelten Gäste wechselten verblüffte Blicke. Hoffnungsvolles Gelächter ertönte.
Rourke starrte Selenes heiter lächelnde Lippen an. Lippen, die sich so perfekt auf seinem Mund und seinem Körper angefühlt hatten. Der Gedanke, dass sie ihn vielleicht nie wieder berühren würden, raubte ihm fast die Besinnung. Er ballte die Hände auf den Armlehnen seines Sessels.
Dieser verdammte Landjunker hatte Selene gebeten, ihn zu heiraten.
Aber das war noch nicht das Schlimmste, begriff Rourke. Irgendetwas
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