Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
sagte ihm, dass Selene in ihrem gegenwärtigen Zustand der Selbstentfremdung vielleicht tatsächlich ja gesagt hatte.
Silverwest sah ihm direkt in die Augen, und ihre Blicke bohrten sich ineinander.
Die Lippen des anderen Mannes verzogen sich zu einem noch breiteren Lächeln.
»Sie hat sich bereit erklärt, mich in den Zirkus zu begleiten«, rief er aus.
Auf eine weit ausholende Gebärde seines Arms hin blitzten Lichter vor der breiten Fensterfront auf und offenbarten ein Gerüst mit einem Trapez auf dem Rasen. Die Akrobaten, die sie erst am Abend zuvor im Zelt beobachtet hatten, sprangen auf und flogen durch die Luft. Clowns jonglierten, und der Tanzbär tanzte. Ein Junge rannte von einem Ständer zum nächsten und entzündete die Fackeln darauf.
Durch den Raum schallten aufgeregte Ausrufe, und alle sprangen von ihren Sitzen und strebten auf die Tür zu. Mit funkelnden Augen und offensichtlich vergessen folgte Rourke Selene und Silverwest. Als er eine Berührung am Arm spürte, schaute er hinab und sah Mrs Thrall neben sich stehen, ihre Hand auf seinen Ärmel gelegt. Benommen begleitete er sie aus dem Haus und auf die große Rasenfläche.
In einem seidenen Pavillon war ein Buffet arrangiert worden, und Clowns schenkten aus Flaschen großzügig rosafarbenen Champagner aus. Das Zirkusorchester, das auf Stühlen unter den Bäumen saß, spielte eine Polka. Silverwest führte Selene auf die gepflasterte Terrasse zum Tanz, dann gesellten sich mehrere andere Paare zu ihnen.
Rourke fand es unerträglich, die ganze charmante Szenerie zu beobachten. Er kehrte ins Haus zurück und schlenderte ziellos durch den Salon und dann weiter in die Bibliothek. Sobald er jedoch eintrat, begriff er, dass er nicht allein war. Der glatzköpfige, bebrillte Mr Harbottle und das junge Haremsmädchen, das Rourke in seinem Laden gesehen hatte, waren mitten in einem Techtelmechtel auf dem Sofa, drückten sich lautstark Küsse auf, nestelten gegenseitig an ihrer Kleidung und begrapschten sich.
Er wich zurück und zog die Doppeltüren hinter sich zu.
Hatte Mrs Thrall nicht gesagt, dass sich
Mrs
Harbottle mit einem der Clowns eingelassen hatte?
Etwas bewegte sich neben seinem Fuß, und er zuckte zusammen. Er trat beinah auf … eine sich windende Schlange. Interessiert schaute er genauer hin. Es war keine echte Schlange, sondern eine ratternde Aufziehschlange, wie die, die Mr Silverwest Selene geschenkt hatte. Die dünne, aufgezogene Schlange gab ein metallisches Sirren von sich, während sie im Zickzack durch die Halle glitt. Er folgte der Schlange, bis sie in einem nur sparsam erleuchteten Raum verschwand.
Er umfasste den Türrahmen und spannte seine Muskeln an, um auf jede notwendige Weise reagieren zu können …
Ein Geruch drang an seine Nase, anders als alles, was er je gerochen hatte. So gut. So reizvoll.
Mrs Thrall wirbelte von dem Fenster herum, das einen Blick auf den Rasen bot. Direkt über ihrer Schulter schossen Garben aus bengalischem Licht in leuchtenden Farben in den Himmel. Blau. Rot. Gold.
»Lord Avenage«, murmelte sie und sah ihn mit großen Augen an. »Was für eine erfreuliche
Überraschung
.«
Der spitze Schwanz der Schlange zappelte und verschwand dann unter dem Saum ihres Rocks.
Sie hatte ihre maßgeschneiderte Jacke ausgezogen und trug jetzt nur ein ärmelloses Mieder, auf dem winzige Kristalle funkelten. Hinter ihr brannte ein Weihrauchkegel. Rötlicher Rauch wehte empor und beduftete die Luft mit dem sinnlichsten, köstlichsten Parfum, das er je gerochen hatte.
Mrs Thrall war wirklich ausnehmend schön. Die Erinnerung an Selene, die in Mr Silverwests Armen getanzt hatte, machte sie noch schöner.
Er blinzelte. Wo zur Hölle waren diese Gedanken hergekommen? Er fühlte sich nicht im Mindesten zu Mrs Thrall hingezogen.
Oh, aber das tat er doch.
»Es scheint, dass Ihr genau wie ich vollauf genug von dem Zirkus habt«, sagte sie und riss die Vorhänge vor dem Fenster zu. »Ich weiß nicht, warum mein Bruder eine solche Vorliebe für ein derartiges Spektakel hat. Ich glaube, dass eine leisere,
intimere
Szenerie Ergebnisse zeitigen kann, die nicht weniger spektakulär sind.«
»Ich stimme Ihnen zu«, antwortete er und starrte auf ihre Brüste, die kleiner waren als Selenes, aber durch und durch entzückend.
Sie zog eine juwelenbesetzte Nadel aus ihrem Haar und schüttelte die hellen Locken aus, bis sie in glänzender Pracht über ihre Schultern und ihren Rücken strömten.
Selene … wer war noch mal
Weitere Kostenlose Bücher