Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
sie nicht allein hinter geschlossenen Türen waren. Selbst jetzt, während sie auf dem Weg zu anderen waren, saß sie nicht neben ihm auf dem Kutschbock. Sie schenkte ihm keine vielsagenden Blicke. Vielmehr wartete sie darauf, dass er sagte, wie sehr sich alles verändert habe. Dass er seinen Pfad zu ewiger Verdammnis nicht fortsetzen wolle, jedenfalls nicht allein.
Aber er hatte sich nicht entschieden. Wann immer er in ihrer Nähe war, vertrieb sie alle düsteren Gedanken und betäubte seine noch immer verzweifelten Gefühle wegen seiner toten Frau und seines Kinds. Und doch konnte er, wenn sie nicht bei ihm war, nicht aufhören, sich dafür zu verdammen, dass er Leidenschaft und sinnliches Verlangen dem vorzog, was richtig war.
Außerdem verwirrten sich seine Gedanken, wann immer er versuchte, darüber nachzugrübeln, wie er und Selene eine Zukunft teilen konnten. Seine ganze unsterbliche Existenz war mit seiner Rolle als Rabenmeister verknüpft, und ihre mit ihrer Rolle als Vollstreckerin. Es war nicht so, als könnten sie sich einfach zusammen häuslich niederlassen.
Sobald sie nach London zurückkehrten und sie ihre Kräfte wiederfand – er konnte nur vermuten, dass es so kommen würde –, befürchtete er, dass sie wieder zwei vollkommen veränderte Menschen sein würden, mit sehr veränderten Prioritäten, die ihre Zweisamkeit beenden würden.
Zum dritten Mal löste er den unbeholfenen Knoten an seiner Kehle. »Wäre es wohl möglich, dass Sie mein Halstuch neu arrangieren würden?«
Selene beugte sich vor und ergriff die baumelnden Enden. Sie starrte seine Kehle an und flüsterte: »Tragen Sie das Halstuch nicht.«
»Nein?«
»Nein.«
»Ich bin erleichtert, Sie das sagen zu hören.«
»Sie sollten sich entspannen und aufhören, die Stirn zu runzeln.«
»Mir war gar nicht bewusst, dass ich das getan habe.« Seine Gefühle in Bezug auf den vor ihnen liegenden Abend waren gemischt. Er hatte sich so sehr gewünscht, nach London zurückzukehren, und doch wünschte er sich jetzt, am Vorabend ihrer Abreise, noch ein paar weitere Tage auf Swarthwick mit Selene. Es ärgerte ihn, dass sie ihren letzten Abend in der Gesellschaft von Menschen verbringen würden, die ihm jeden Nerv raubten. Sobald sie ankamen, das wusste er, würde Silverwest an Selenes Seite sein, und ihm würde die zuckersüße, glupschäugige Mrs Thrall zugewiesen werden.
»Mrs Thrall hat sich so viel Mühe gemacht, uns ein Abschiedsdinner zuzubereiten. Sie müssen es durchleiden und höflich sein.«
»Werden noch andere Gäste da sein?«, fragte er.
»Ich habe keine Ahnung.«
Er brummte etwas Unverständliches, legte die geballte Faust an die Lippen und drehte den Kopf, um zum Fenster hinauszustarren.
»Seien Sie einfach dankbar, dass es ein Dinner ist und kein Ball. Wir sollten bis halb elf fertig sein und wieder in der Kutsche sitzen.«
»Sie wissen, was ich von Silverwest halte«, murmelte er und hasste das Eingeständnis, fühlte sich aber genötigt, es trotzdem zu sagen. »Von der Art, wie er Sie ansieht.«
»Wie sieht er mich denn an, Rourke?«
»Als wollte er Sie verspeisen.«
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht sollte ich es ihm erlauben.«
Rourkes Augen wurden schmal. »Benutzen Sie ihn nicht gegen mich.«
»Ich versuche nicht, ihn gegen Sie zu benutzen oder Sie zu provozieren.« Sie beugte sich auf ihrem Sitz vor und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Aber ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Wenn ich an unsere bevorstehende Rückkehr nach London denke, drängen sich mir eine Menge unangenehmer Fragen auf. Was, wenn ich nicht wieder als Vollstreckerin unter den Schattenwächtern tätig sein kann? Was, wenn ich plötzlich …«
Die Stimme versagte ihr.
»Was?«
»Wenn ich plötzlich sterblich bin … ich habe mich gefragt, ob es das ist, was mit mir passiert. Ich fühle mich so leer.«
»Sagen Sie das nicht.«
»Wenn ich sterblich wäre, würden die Dinge zwischen uns noch unmöglicher sein, als sie es jetzt schon sind.«
Er griff nach ihrer Hand, aber sie zog sich aus seiner Reichweite zurück. Dass sie diese kleine, tröstende Berührung zurückwies, bekümmerte ihn mehr, als er erwartet hätte.
In ihren Augen glänzten Tränen. »Was auch geschieht, Rourke. Sie sollen wissen, dass …«
Die Tür neben ihnen flog auf. Rourke blinzelte. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass der Wagen stehen geblieben war.
Selene tupfte sich mit einem behandschuhten Finger die Augen und griff nach ihrer Tasche und ihrem Schal.
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