Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
seine verderbte Fantasie erwachte, und während sie auf einer gewölbten, steinernen Brücke aneinander vorbeigegangen waren, hatte er sich eine verbotene Berührung ihrer Hand gegönnt.
Sie hatte ihn scharf angesehen. Ihre Blicke hatten sich gekreuzt, und er hatte sich gestattet, dass das volle Ausmaß seines Begehrens durch die Augenlöcher seiner Maske leuchtete. Die Menge hatte um sie herum gewogt, und dann, als er geglaubt hatte, es könne etwas zwischen ihnen geschehen, hatte er sie aus den Augen verloren.
Man stelle sich seinen Schreck vor, als eine Kutsche vor nur drei Wochen neben ihm auf einer Londoner Straße anhielt und ihr unvergessliches Gesicht in dem polierten Holzrahmen des Fensters erschien. Sie hatte ihn gebeten, sich zu ihr zu gesellen. Dieser Moment war die Antwort auf seine Gebete gewesen – und ein wahr gewordener Albtraum.
Fantasien waren Fantasien. Sie sollten niemals in die Realität umgesetzt werden, denn sie konnten nur abgeschmettert und zerstört werden.
Zu der Zeit, bevor es zu den Mordanklagen gegen die Gräfin gekommen war, war Rourke davon überzeugt gewesen, dass der Teufel Selene erschaffen habe, um ihn in Versuchung zu führen, ihn zu peinigen und dazu zu verleiten, sich von dem ewigen Schwur abzukehren, den er geleistet hatte.
Angespannt beobachtete er, wie sich Selene vorbeugte und ans gegenüberliegende Ende der Bank rückte. Die Bewegung erfüllte den kleinen Raum mit ihrem Lotusblütenduft. Sie zog an ihren Hutnadeln, nahm Hut und Handschuhe ab und legte beides auf den schmalen Beistelltisch. Kurz berührten ihre Fingerspitzen ihre Augen, und dabei schien sie sich zu fassen. Sie atmete aus, lehnte sich gegen die Kissen und schloss die Augen. Binnen Augenblicken war sie eingeschlafen.
Rourke hatte keine solchen Möglichkeit, wenigstens vorübergehend dem zu entkommen, was ihn bekümmerte.
Acht Stunden später und nach einer zusätzlichen, qualvollen fünfstündigen Verspätung wegen Reparaturen an einer Brücke fürchtete Selene, dass sie wahrhaft den Verstand verlieren würde. Die ländliche Landschaft vor ihrem Fenster lag schon seit Langem unter einem Schleier undurchdringlicher Dunkelheit.
Während der ganzen Reise war sie immer wieder eingenickt und hochgeschreckt, abwechselnd ihren Sorgen durch Schlaf entflohen – und wieder mit ihnen aufgewacht. Sie hatte erfolglos versucht, sich daran zu hindern, über die Morde und ihre nichtexistenten Fähigkeiten nachzugrübeln, und war schier daran verzweifelt, nicht zu verzweifeln. Obwohl sie einige Bücher in ihrem Koffer dabeihatte, hatte sie keinen Appetit darauf, sie zu lesen oder zu verzehren. Die Worte drehten sich vor ihren Augen und schienen sich auf den Seiten immer neu zu arrangieren, was ihr Übelkeit und Elend bescherte. Ihr Abteil, das zu Beginn ihrer Reise sehr behaglich gewesen war, kam ihr jetzt stickig und erdrückend vor.
Sie hämmerte mit der Hand gegen die Fensterverschlüsse, aber die Scheibe ließ sich nicht öffnen. Sie musste hinaus aus diesem winzigen Raum, und sei es nur für kurze Zeit. Die Stimmen und hin und wieder auch das Gelächter der anderen Passagiere waren durch ihre Tür zu hören.
Sie wusch sich das Gesicht in der Waschschüssel, kämmte sich das Haar und steckte ihren Hut fest. Der Spiegel an der Wand zeigte eine nachdenkliche junge Frau mit Ringen der Erschöpfung unter den Augen. Sie öffnete die Tür.
Shrew und Tres, die auf Stühlen zu beiden Seiten saßen, legten sofort ihre Zeitungen beiseite und standen auf, um ihr den Weg zu versperren.
Die Passagiere in dem angrenzenden Abteil beobachteten das Geschehen mit verzücktem Interesse.
»Kann ich Ihnen irgendetwas holen, Gräfin?«, erkundigte sich Shrew mit vollendeter Höflichkeit. »Eine Zeitung? Frisches Wasser?«
Tres murmelte: »Vielleicht einen Teller mit Glasscherben aus dem Speisesaal?«
Shrew warf ihm einen scharfen Blick zu, aber der Hass des älteren Bruders schlug ihr entgegen. Anscheinend würde dieser Schattenwächter ihr keine Gnade gewähren, solange im Zweifel stand, wer den Tod seines Waffenkameraden herbeigeführt hatte. Rourke war nirgends zu sehen.
»Mein Fenster lässt sich nicht öffnen, und es ist stickig geworden im Abteil. Ich würde gern hinaus auf die Wagenplattform gehen, um für ein paar Minuten frische Luft zu schöpfen.«
Tres antwortete schroff: »Unsere Anweisungen sehen vor, dass Sie in Ihrem Abteil bleiben.«
»Ich werde nicht lange weg sein.« Sie raffte ihren Rock und ging an ihm
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