Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
vorbei.
Wieder versperrte Tres ihr den Weg, hochgewachsen und breitschultrig. Seine Augen glänzten hitzig und herausfordernd.
Selene war es nicht gewohnt, dass ihre Freiheiten eingeschränkt wurden oder dass ihr irgendjemand, abgesehen von den Ahnen, sagte, was sie zu tun habe.
»Bitte, seien Sie versichert, dass ich nicht die Absicht habe zu entfliehen oder auf irgendeine Weise Unruhe zu stiften«, sagte sie, außerstande, eine sarkastische Schärfe aus ihrer Stimme herauszuhalten.
»Natürlich werden Sie das nicht tun«, gab er zurück. »Denn Sie werden in Ihrem Abteil bleiben. Mein Bruder und ich spielen keine Spielchen wie Dummköpfe. Sie werden uns nicht mit Ihrem Haar ablenken und Ihrer Seide und Ihrer …« Sein Blick wanderte zu ihrer Kehle, ihren Brüsten und ihrer Taille.
Selene knurrte wie eine missgelaunte Katze.
Shrew hakte ein. »Was mein Bruder zu sagen versucht, ist, dass Ihre Legende Ihnen vorauseilt, Gräfin. Sie finden ein beinahe unnatürliches Vergnügen daran, die transzendierten Seelen aufzuspüren und zu vollstrecken – eine Arbeit, die Ihnen zugewiesen wurde. Und Sie haben präzises Morden zu einer Kunst gemacht. Es gibt Gerüchte, dass Sie den Grafen Pawlenko geheiratet haben und ihn dann …«
»Verdammt«, knirschte Selene. »Ich kann kaum für mehr als eine Viertelstunde am Stück die Augen offen halten. Welche Art von Ärger erwarten Sie von mir?«
Sie trat auf Tres zu, aber er richtete sich auf und straffte die Schultern.
Selene senkte die Stimme zu einem Zischeln. »Begleiten Sie mich, wenn Sie es wünschen, aber wenn Sie mich nicht passieren lassen, werde ich Zeter und Mordio schreien – und glauben Sie mir, ich weiß genau, wie das klingt – und es Ihnen überlassen, alle Fragen zu beantworten, die der Schaffner und die anderen Fahrgäste vielleicht haben werden.«
Ohne darauf zu warten, dass Tres ihr Ansinnen gewährte oder ablehnte, drängte sie sich an ihm vorbei und bewegte sich den Mittelgang entlang. Sie lächelte ihre neugierigen Mitreisenden freundlich an.
»Meine Brüder«, sagte sie. »Wie sie einem manchmal die Geduld strapazieren können mit ihrer Überfürsorglichkeit.«
Schließlich kam sie ans Ende des Waggons. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Eine andere Hand schob sich vor ihre und umfasste ihn zuerst.
Ihre unglückseligen Bewacher standen links und rechts wie die Ölgötzen neben ihr.
Tres sagte: »Dann werden wir alle zusammen hinausgehen. Ich werde vorangehen, und dann Sie. Shrew wird das Schlusslicht bilden.«
Der Blick, den sie den beiden Raben zuwarf, hätte weniger beherzte Männer am Boden zerstört. Sie erwiderten den Blick nur kalt, zwei gut aussehende, kraftstrotzende Geschöpfe, sichtlich entschlossen, nicht die Kontrolle über die Situation zu verlieren.
Ihre Augen wurden schmal. »
Kleine Jungs.
«
Die Tür schwang wie aus eigenem Antrieb nach außen.
»Ich bin hier«, sagte Avenage.
Als sie seine Stimme hörte, spürte Selene, wie unerklärlicherweise Befriedigung in ihr aufwallte.
Sie trat auf die Plattform hinaus; er stand am Ende des Geländers, das Gesicht halb erhellt vom Licht aus dem Inneren des nächsten Waggons. Ein kleiner, roter Glutpunkt leuchtete in der Nähe seiner Fingerspitzen. Hinter seinen Schultern zerrissen gezackte Blitze den weiten Himmel. Das Fauchen der Dampflok und das ratternde Rollen der Räder auf den Schienen übertönten jeden anschließenden Donner.
Tres und Shrew spähten durch die Tür.
Rourke sagte: »Sie sind beide von Ihren Pflichten entbunden, um im Speisewagen Ihr Abendessen einzunehmen. Ich werde die Gräfin in ihr Abteil zurückbringen.«
Die Brüder zögerten, und Selene hatte den Verdacht, dass ein Gespräch in der stummen Sprache stattfand, die sie nicht mehr hören konnte.
»Wie Sie wünschen, Euer Durchlaucht«, antwortete Tres und warf ihr zum Abschied einen funkelnden Blick zu.
Endlich zogen sie die Tür zu und verschwanden in dem Waggon.
Selene trat Rourke gegenüber ans Geländer, wandte ihm den Rücken zu und beugte sich leicht darüber, sodass der Wind sie mit voller Wucht im Gesicht traf. Das Gerüttel der metallenen Gitterroste der Plattform setzte sich durch ihre Schuhsohlen fort und löste ein beinahe kitzeliges Gefühl in ihrem Bauch aus. Der Wind fuhr unter ihren Hut, und sie drückte mit der Hand darauf, damit er nicht wegflog. Sie atmete tief ein. Die Luft roch nach Regen und Erde und allen möglichen einfachen Dingen.
Bahnschwellen blitzten unter
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