Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
Ihre Arbeit im Krankenhaus stellte eine äußerst willkommene Ablenkung dar, und sie freute sich auf die vor ihr liegenden, aufregenden Monate, wenn sie die Ausbildung an der medizinischen Fakultät beginnen würde.
Elena schob das Medaillon in den ausgeblichenen Samtbeutel zurück und legte das kleine Bündel wieder in die Schublade ihres Ankleidetischs. Dort fiel ihr Blick auf den Brief – den einzigen Brief, den sie während all dieser Monate von Lord Black bekommen hatte. Sie strich mit den Fingerspitzen über ihren Namen, Ms Elena Whitney, geschrieben in seiner festen, präzisen Schrift. Der Umschlag war in Kairo abgestempelt worden, und die Sendung war geschlagene fünfzehn Monate alt.
An den Wänden von Black House hing nicht ein einziges Porträt ihres Vormunds. Mrs Hazelgreaves erklärte ihr, dass die meisten Familien in Mayfair ihre Familienporträts in ihren Landhäusern aufhängten. Wenn sie versuchte, sein Bild in ihrem Geist heraufzubeschwören, entwickelte ihr Unterbewusstsein bedauerlicherweise unausweichlich das Bild, das sie in dem Medaillon sah – das von ihrem Vater. Ohne irgendeine echte Erinnerung an einen der beiden Männer versuchte ihr Verstand fortwährend, sie miteinander zu verschmelzen. Schon aus Respekt vor ihrem Vater wünschte sie sich inbrünstig, dass Lord Black nach England zurückkehren würde.
Sie hatte ihm Briefe geschrieben und sogar Telegramme geschickt und gehofft, zusätzliche Einzelheiten über ihre Situation würden vielleicht etwas in ihr wachrufen. Aber zwischen Sankt Petersburg, Burma und den anderen fremdländischen Aufenthaltsorten hatten ihre Mitteilungen ihn anscheinend nie erreicht. Irgendwann hatte sie aufgegeben, ihn postalisch zu finden, und war wegen einer Anstellung im Hospital an Harcourt herangetreten. Es kam eine Zeit, da musste man einfach weitermachen.
Es klopfte an ihre Tür.
»Ja?«, rief sie.
»Mrs Hazelgreaves lässt Sie bitten, zu ihr hinunterzukommen, Ms.«
»Danke, Mary Alice. Ich bin gleich da.«
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug viertel vor zehn. Sie warf einen letzten Blick in ihren goldgerahmten Spiegel. Zwei verschiedenfarbige Augen schauten sie an.
Vom Juni, als sie in ihrem prächtigen Hofkleid im St.-James-Palast mit etwa vierzig anderen jungen Frauen darauf gewartet hatte, Prinz Albert Edward und Prinzessin Alexandra vorgestellt zu werden, war ihr die geflüsterte Bemerkung einer älteren Dame noch in Erinnerung. Sie hatte ihre Augen als »eigenartig« bezeichnet, und ihre Gefährtin hatte ihr kichernd zugestimmt und »beunruhigend« hinzugefügt. Elena musste zugeben, dass sie trotz ihrer »eigenartigen« und »beunruhigenden« Augen heute Abend recht zufrieden war mit ihrem Aussehen. Mit einem heißen Lockeneisen und einer Handvoll Haarnadeln hatte Mary Alice ihre blond schimmernde Mähne zu einer eleganten Frisur gezähmt. Und wie Mrs Hazelgreaves erklärt hatte, war Pfauenblau offensichtlich genau ihre Farbe.
Nachdem sie ihren schwarzen Spitzenschal von den dicken Polstern des Sofas genommen hatte, machte sich Elena auf den Weg nach unten. Vergoldete Wandleuchter in Form nach oben gekehrter Bärenklaublätter beleuchteten den schmalen Flur. Von den dreizehn Schlafzimmern des Hauses wurden derzeit nur zwei benutzt. Bis vor Kurzem hatte Mrs Hazelgreaves das Zimmer neben ihrem bewohnt. Aber als der September gekommen war, hatte sie erklärt, dass die Räume zugig, kalt und »eine Beleidigung für den Rheumatismus einer alten Frau« seien, und befohlen, dass ihre Habe in eine Zimmerflucht am anderen Ende des Flurs gebracht wurde.
Als Elena an der mit Säulen eingefassten Tür zu den Räumen des Hausherrn vorbeikam, hielt sie inne. Die Tür stand offen. Abgesehen von den Zimmern, die sie und Mrs Hazelgreaves benutzten, waren die Möbel im Rest des Herrenhauses mit Staublaken geschützt, wenn sie nicht gerade durch das während der Abwesenheit seiner Lordschaft verminderte Personal gesäubert wurden. Jetzt sah sie, wie hinter der offenen Tür zwei Hausmädchen die Staublaken von den Möbeln zogen. Der Duft von Zitronenöl drang auf den Flur. Elena warf einen verstohlenen Blick auf den höhlenartigen Raum voller massiger, dunkler Möbel und ging weiter.
In der Mitte des Hauses ging sie die Treppe hinunter, ein wuchtiges Gebilde aus Marmor, das sich wie ein glänzender, schwarzer Leviathan vom Erdgeschoss aufwärts schwang. Ein Blitz erhellte das Dämmerlicht, das über ihr durch das Oberlicht fiel. Als sie den Fuß der Treppe
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