Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
gerichtet. Der Himmel wurde mit jedem Moment heller. Er presste eine Hand auf den Mund und spürte den Schweiß auf seiner Oberlippe. All die Jahrhunderte, all die Kämpfe und prachtvollen Ereignisse, deren Zeuge er geworden war, waren im Laufe der Nacht zu nichts verblasst. Da war nur noch Elena.
Wenn sie starb …
Sein Herz schlug bang.
Wenn sie starb, würde er ebenfalls sterben. Er würde zusammenschrumpfen und verfallen und sich innerlich nach ihr verzehren. Er konnte es nicht erklären, nicht einmal sich selbst gegenüber, wie er eine solche Verbindung zu ihr entwickelt hatte, mit einer solch seelischen Tiefe – aber so war es geschehen. Er würde ihren Verlust nicht überleben. Würde es nicht mal wollen.
Das Schloss seiner Zelle klapperte, und die Tür schwang nach innen auf.
»Euer Lordschaft …«
Er griff nach Mantel und Hut und schob sich an den Polizisten vorbei, um den Flur hinunterzurennen. Leeson rief ihm aus seiner Zelle etwas zu. Draußen auf der Straße rannte er weiter. Seine Verzweiflung trug ihn den ganzen Weg bis zu den Türen des London Hospital.
Er trat ein. Etliche Menschen füllten den kleinen Empfangsraum. Jacks Spur war natürlich vollkommen verschwunden.
Worte und Gedanken explodierten um ihn herum.
»Lord Black!«
»Er ist freigelassen worden …«
Wer wird es ihm sagen?
Harcourts Gesicht erschien, erschüttert. Neben ihm standen eine junge Krankenschwester mit tränenüberströmtem Gesicht und zwei grimmige Polizisten.
Archer brummte, und seine Gefühle machten seine Stimme tiefer, »Wo ist sie?«
Elena wurde von Schatten geweckt, und von etwas Feuchtem und Hartem auf ihrer Wange.
Benommen stemmte sie sich hoch – und schrie.
Neben ihr saß ein toter Mann, die Schultern unnatürlich abgeknickt. Nein, begriff ihr panischer Geist, das Ding neben ihr war kein Mann – es war eine lebensgroße Puppe, deren Kopf und Hände aus Wachs geformt waren. Dieselbe Puppe von Jack the Ripper, die sie an jenem Nachmittag auf der Straße gesehen hatte, als sie aus dem Museum gekommen war.
Furcht, tiefer und dunkler als alles, was sie je zuvor erlebt hatte, machte ihre Arme und Beine taub. Sie presste eine Hand auf den Mund, kauerte sich neben die Wand und suchte Zuflucht in der dunkelsten Ecke.
Sie war auf dem Boden eines Brunnenschachtes gefangen, der mindestens vier Meter tief war. Ein Metallgitter bedeckte die Öffnung, und orangefarbenes Licht glomm darüber. Unter ihren Füßen waren Tonscherben. Sie blinzelte. Alte Kleidung und Zeitungen. Alles roch muffig, feucht und verfallen.
Elena schloss die Augen und versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie hierhergekommen war. Sie erinnerte sich daran, das Hospital verlassen zu haben. Dann hatte sie Lizzy gesehen, aber sonst war da nichts. Hatte Lizzy ihr das angetan? Sie konnte es nicht glauben.
Wer war es dann gewesen?
In ihrem Kopf drehte sich alles, vor Panik oder aufgrund irgendeiner narkotischen Droge? Sie hatte den Verdacht, dass man sie mit Chloroform betäubt hatte, eine Methode, die die Schurken auf Whitechapels Straßen häufig anwendeten. Wie lange war sie bewusstlos gewesen, und suchte inzwischen schon irgendjemand nach ihr?
Unsicher stand sie auf und presste die Hand auf die nassen Steine. Mit mittlerweile klarerem Kopf untersuchte sie sie, doch sie waren zu glatt und nass, um daran hinaufzuklettern, ganz davon zu schweigen, dass sie vollkommen mit grünlich-schwarzem Schleim bedeckt waren.
Etwas raschelte über ihr. Ein Schatten nahm klare Formen an.
»Sie sind wach. Entzückend. Ich wünsche mir so sehr, mich Ihnen vorzustellen.«
Eine solch seltsame, hohle Stimme. Ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen.
Sie räusperte sich und fragte mit fester Stimme: »Wer sind Sie?«
»Nennen Sie mich Jack.« Die Stimme kicherte böse. Der Schauder, der sie überlief, wanderte nicht nur ihr Rückgrat hinunter, sondern drang in jede Zelle ihres Körpers. »Das tun alle.«
Elenas Atem stockte, als würde er von den Schachtwänden zurückgedrückt werden.
»Sie sind doch nicht ohnmächtig geworden … Nicht wahr, Ms Whitney?«, fragte die Stimme hoffnungsvoll.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Mmmmmmh … Lord Black. Ich bemühe mich, mich über all seine Angelegenheiten genauestens auf dem Laufenden zu halten. Er lässt sich jedoch nicht gern in die Karten schauen, nicht wahr? Er spielt gern den dunklen … stummen … Schatten. « Die Stimme verklang in einem Zischen.
Elena
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