Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
irregeleiteten Gefühl heraus gehandelt hatte.
Endlich, als sie die Neugier nicht länger ertragen konnte, klappte sie die Karte auf. Ah, begriff sie mit niederschmetternder Enttäuschung, es war eine Mitteilung von Lady Kerrigan, die sie für den nächsten Mittwochabend, den 7. November, zum Abendessen einlud. Ein plötzlicher Gedanke kam ihr – einer, der dazu führte, dass sie sich auf ihre schmale Matratze sinken ließ.
Was, wenn Lord Black seine Angelegenheiten in London geregelt hatte?
Was, wenn er beabsichtigte, fortzugehen, ohne Lebewohl zu sagen?
15
»Meine liebe Ms Whitney, sind Sie sicher, dass Sie nicht über Nacht bleiben wollen?«, fragte Lady Kerrigan von der Tür des kleinen Ankleidezimmers im ersten Stock her. Elena hatte sich dort erfrischt, nachdem sie aus dem Krankenhaus eingetroffen war.
Sie hatte während der Fahrt mit der Droschke nach Mayfair ihre Schwesterntracht getragen und sich erst nach ihrer Ankunft umgezogen, weil sie keine Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken wollte, dass sie eine Dinnereinladung in Dr. Harcourts Haus erhalten hatte, was ihren Umgang mit einigen der anderen Krankenschwestern hätte schwierig machen können.
Elena stellte ihren Koffer auf den Tisch. »Vielen Dank, Mylady, aber ich habe im Hospital die Frühschicht übernommen, und ich würde lieber spät ankommen und im Wohnheim schlafen, als vor der Morgendämmerung nach Whitechapel zu fahren.«
Lady Kerrigan nickte mitfühlend. »Ja, das kann ich verstehen.«
»Übrigens, danke für die schönen Rosen, die Sie mit der Einladung geschickt haben.«
Ihre Gnaden legten fragend die Stirn in Falten. »Rosen?«
»Ja, die Rosen, die mit der Karte gebracht wurden. Zumindest habe ich angenommen, dass sie mit der Karte gekommen sind …« Verlegenheit ließ Elenas Wangen heiß werden.
Ein wissendes Lächeln umspielte die Lippen der älteren Frau. »Es scheint, Sie haben einen Verehrer.«
Die Blumen konnten von jedem gekommen sein. Vielleicht Harcourt? Er wusste, dass sie eine schwierige Zeit durchmachte. Aber sie hatte ihn etliche Male im Krankenhaus gesehen, und er hatte nichts durchblicken lassen.
Elenas Herzschlag beschleunigte sich. Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt.
Archer?
Zweifelhaft. Mehr und mehr glaubte sie, dass er London verlassen haben musste. Wenn er noch in der Stadt war, hätte er sich dann nicht zumindest nach ihrem Wohlergehen erkundigt?
Wie dem auch sei, wenn der Absender der Rosen einen geziemenden Dank wünschte, hätte er sich mit einer Karte zu erkennen gegeben. Es war unhöflich, sie zweimal in die Lage zu bringen, erraten zu müssen, wer ihr Blumen geschickt hatte.
Elena und ihre Gastgeberin verließen den Raum, um zur großen Galerie zu gehen, wo vor fast fünf Wochen der Geburtstagsball stattgefunden hatte. Dieser Abend schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Elena konnte nicht umhin, darüber zu staunen, wie sehr sich ihr Leben seither verändert hatte.
Charles stand von einer eleganten Couch auf und begrüßte sie mit seiner gewohnten Begeisterung.
»Mylady.« Er beugte sich vor, um seine Mutter auf die Wange zu küssen. »Und Ms Whitney, was für eine Freude, Sie heute Abend hier zu haben.«
Er küsste ihre Finger und zog ihre Hand an seinen Ellbogen. Dann bot er den anderen Ellbogen seiner Mutter an und geleitete sie das elfenbeinfarbene und mit Gold verzierte Treppenhaus ins Speisezimmer hinauf. Sie gingen durch den Türrahmen, der üppig mit goldenen Schnörkeln verziert war.
Elena erstarrte. Inmitten der anderen geladenen Gäste stand ein hochgewachsener, kräftig gebauter Mann in untadeliger Abendkleidung. Er unterhielt sich mit Lord Kerrigan – aber seine Lippen hörten auf, sich zu bewegen, sobald sich ihre Blicke trafen.
Der Boden schien unter ihr nachzugeben. Lord Black hatte London nicht verlassen. Elena wohnte jetzt seit einer vollen Woche im Krankenhaus, und obwohl er die ganze Zeit über in der Stadt gewesen war, hatte er sich nicht ein einziges Mal mit ihr in Verbindung gesetzt.
»Was ist los?«, fragte Charles leise.
Sie hatte unwillkürlich seinen Arm gepackt. Wortlos schüttelte sie den Kopf.
Verfluchtes Protokoll – sie hätte voraussehen sollen, dass er zugegen sein würde. Eine unverheiratete junge Dame würde nicht zum Abendessen eingeladen werden, ohne dass ein Mitglied ihrer Familie oder eine Anstandsdame ebenfalls eine Einladung erhielt. Ihr Herz pochte, als er auf sie zukam, sein Blick undurchdringlich. Aller Augen folgten ihm, neugierig
Weitere Kostenlose Bücher