Shadow Guard: Wenn die Nacht beginnt (German Edition)
und bewundernd.
»Lady Kerrigan, Ms Whitney.« Ein einziger Blick in seine Augen, und sie fühlte sich so nackt, als hätte man ihr ihr Kleid ausgezogen. Sie konnte nur beten, dass ihre geraden Schultern und das falsche, heitere Lächeln das Ausmaß seiner Wirkung auf sie verbargen.
»Euer Gnaden.« Elena begrüßte ihn mit einem angespannten Nicken.
»Ms Whitney«, trällerte eine vertraute Stimme.
Mrs Hazelgreaves drängte sich am Arm eines Gentleman in mittleren Jahren durch die kleine Menge. Schnell wurden alle miteinander bekannt gemacht. Mrs Hazelgreaves’ Sohn Theodore fungierte als ihr Begleiter, verwickelte Archer alsbald in ein Gespräch und zog ihn zur Seite.
»Mrs Hazelgreaves«, sagte Elena. »Sie sehen geradezu … strahlend aus.«
Es stimmte. Eine gesunde, rosige Farbe war in die Wangen der ältlichen Frau getreten. Sie stützte sich kaum noch auf ihren Gehstock und wirkte gesünder und kräftiger, als Elena sie je gesehen hatte. Selbst ihr Haar schien in einem helleren Silberton zu glänzen.
Dr. Harcourt nickte. »Es scheint, dass einige Wochen strenger Ruhe alles waren, was Mrs Hazelgreaves brauchte. Sie ist voll genesen.«
Mrs Hazelgreaves fügte hinzu: »Ich kann nicht erklären, warum, aber ich fühle mich vollkommen erfrischt – so erfrischt, dass Teddy und seine liebe Ehefrau zugestimmt haben, mich mit nach Paris zu nehmen, wo ich bis Dezember bleiben werde.«
»Wie schön für Sie«, rief Lady Kerrigan.
»Wir brechen unverzüglich auf. Genau genommen gleich morgen früh. Er setzt gerade Seine Gnaden ins Bild.« Das Lächeln der älteren Frau wurde dünner. »Schließlich werde ich hier ja nicht mehr gebraucht, nicht wahr, meine liebe Ms Whitney?«
Ihr vielsagender Blick ruhte auf Elena.
»Ja, Mrs Hazelgreaves«, stimmte Elena leise zu; erst jetzt begriff sie, welche Zuneigung sie zu ihrer Gesellschafterin gefasst hatte. »Ich fürchte, so ist es. Ich werde von jetzt an andernorts wohnen. Aber ich danke Ihnen für Ihre wunderbare Gesellschaft im Laufe der vergangenen zwei Jahre.«
Mrs Hazelgreaves neigte den Kopf und musterte Elena eingehend. »Und ich Ihnen, Liebes. Aber ich bin mir sicher, dass wir die Gesellschaft der anderen jederzeit wieder genießen werden.«
»Darüber würde ich mich freuen.«
»Dann werden wir nicht Lebewohl sagen.« Sie griff mit einer zierlichen, geäderten Hand nach der von Elena und beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Bis dahin.«
Elena erlaubte Charles, sie in die andere Richtung zu ziehen, um sie Lord Lister vorzustellen, einem geschätzten Forscher und Chirurgen und Mitglied des Rats der königlichen Fakultät für Ärzte, ein Herr, den kennenzulernen sie begeistert gewesen wäre, hätte Archers Gegenwart sie nicht abgelenkt. Allein das Wissen, dass er nach so vielen Tagen der Trennung nahe war, erhöhte ihre Anspannung auf ein quälendes Maß.
Nun, dasselbe Protokoll, das ihren Vormund zu dem Ereignis geführt hatte, verhinderte glücklicherweise, dass sie einen Platz neben ihm bekam. Eine Viertelstunde später, in der sie keinen Bissen zu sich genommen hatte, warf sie einen Blick zum gegenüberliegenden Ende des Tischs und stellte fest, dass er sie ansah. Er wandte den Blick nicht ab, als er ertappt wurde.
Sie dagegen schaute auf ihren Teller hinab.
Das Gespräch um sie herum ging weiter.
»Ich denke, der Ripper ist verschwunden. Wahrscheinlich tot. Die Bürde dessen, was er diesen Frauen angetan hat, war zu viel für ihn. Ich vermute, dass er Selbstmord begangen hat.« Der Herr drehte sich plötzlich auf seinem Stuhl Lady Kerrigan zu. »Entschuldigen Sie, dass ich vor den Damen so ungehobelt spreche.«
Die Gastgeberin neigte den Kopf. »Nichtsdestoweniger hoffe ich, dass Sie mit Ihrer Vermutung richtigliegen. Ich bete, dass der Schurke in diesem Moment mit all dem anderen Müll am Grund der Themse ruht.«
Unter der Inbrunst ihrer Erklärung färbten sich Lady Kerrigans Wangen rosig. Rund um den Tisch wurde Gekicher laut.
Nach einer qualvoll in die Länge gezogenen Abfolge von delikaten Gängen näherte sich die Mahlzeit endlich dem Ende. Wie es Sitte war, machten sich die Herren auf den Weg zur Bibliothek, wo sie Zigarren und Alkohol genießen würden. Die Damen begaben sich in den Salon.
»Ms Whitney?« Lady Kerrigan stand in der Mitte des prächtigen Flurs. »Kommen Sie nicht mit?«
»Ich fürchte, ich fühle mich nicht wohl«, antwortete Elena. »Bitte, machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich denke,
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