Shadow Touch
Ihre Ängste, Artur. Springen Sie so, wie sie es getan hat.«
»Ich habe keine Angst«, entgegnete Artur, aber Rictor war bereits fort, und seine Worte klangen hohl. Er hatte Angst. Das hatte er Elena selbst gesagt. Er hatte eine Todesangst davor, ihr sein ganzes Leben zu zeigen, weil er fürchtete, dass sie ihn für das, was er getan hatte, um zu überleben, zurück-weisen würde. Artur war nicht einmal sicher, ob sie das alles überhaupt sehen musste; dass sie zusammenkamen, hatte ihr Unwissen jedenfalls nicht behindert.
Aber wenn sie bei ihm blieb, länger als einen Tag oder ein Jahr, was dann? Musste er nicht mit der Frau, die er liebte, ehrlich sein? Und was hatte es damit zu tun, Elenas Leben zu retten?
Er hörte Rictors Stimme: Was ist mehr wert, Ihr Stolz oder Elenas Leben?
»Elena«, sagte er. Zum ersten Mal in seinem Leben ging er dieses Risiko ein, leistete er den Vertrauensvorschuss. Er sagte ja, ja zu allem, zu der Wahrheit und auch dazu, sie seine dunkelsten Geheimnisse sehen zu lassen. Der Traum zerbarst, die Wände seines Gefängnisses verschwanden; sein Innerstes, bisher sicher und verborgen vor Elenas Augen, lag jetzt ungeschützt da.
Er wachte auf. Sein Bauch fühlte sich noch wund an, doch als er die Stelle berührte, wo die Wunde gewesen war, ertastete er nur glatte Haut. Die Haut kribbelte. Er sah sich um und erblickte Elena, die auf ihrem Bett lag, zusammengerollt, und blicklos an die Decke starrte. Sie war in ihm, arbeitete immer noch in ihm. Er fühlte ihre Gegenwart.
»Artur«, sagte Amiri, aber Artur gebot ihm mit der Hand zu schweigen. Wie zuvor wand er seinen Geist um Elenas, hielt sie fest, diesmal beruhigend, flüsternd, und versuchte, die gewaltige Energie zu dämmen, die aus ihr herausströmte. Mir geht es gut. Du hast es geschafft, du kannst jetzt aufhören.
Eine Weile schien sie nicht zu reagieren, aber er beobachtete ihre Augen, sah, wie ihre Wimpern zuckten, ihre Atemzüge sich vertieften, und dann spürte er, wie ihre Macht allmählich verebbte. Aber er hielt dennoch den Kontakt mit ihrem Geist aufrecht. Es fiel ihm schwer, sie loszulassen. Seine Angst, sie zu verlieren, war überwältigend, schwächte ihn oder machte ihn stark. Vielleicht beides. Wie bei einer Gestalt aus dem Märchen. Artur glaubte, dass keine Aufgabe zu groß oder zu gefährlich sein könne, wenn es bedeutete, dass sie in Sicherheit war.
»Nein«, murmelte sie aus dem anderen Bett und schloss endlich die Augen. Zuerst dachte Artur, sie wollte ihm widersprechen, dann aber streckte er den Arm aus, berührte ihre Hand und fühlte, wie Erinnerungen sie durchströmten. Seine Erinnerungen, die sie erfüllten. Er hatte alles geöffnet, und das viel zu schnell. Er sah ... die erste Nacht im Waisenhaus, verloren, ohne Schutz, ohne Familie, wie er in einer Ecke schlief, in der es nach Urin stank, wie er aufwachte und feststellte, dass man ihm die Kleidung gestohlen hatte. Man hatte ihn bestohlen, verprügelt, für seine Hose und sein Hemd .. . oder ... die erste Nacht auf der Straße, nachdem er weggelaufen war, die Nächte, die auf jene folgten, verzweifelt, hungrig, wie er ein Geldbündel in die Hand gedrückt bekam und das Flüstern hörte: »Wenn du den Mann einfach so berührst, dann gehört es dir, dir« ... und oh, Gott, o nein ...
»Nein!«, keuchte er, aber es war schon zu spät. Er konnte sie nicht mehr daran hindern, alles zu sehen. Er hatte Rictors Rat befolgt und alle Mauern niedergerissen, sein Gefängnis verlassen, um sie zu retten — aber wenn er sie deswegen verlor, wenn sie jetzt vor ihm davonlief ...
Er beobachtete sein Leben mit ihr, durchlebte es erneut, fühlte ihren Schock, ihre Angst, ihr Entsetzen, während sie in diesen albtraumhaften Strudel gezogen wurde. Gerade als Artur glaubte, dass er es erneut getan hatte, jemanden verletzt hatte, den er liebte, da fühlte er, wie sich ihr Mitgefühl regte - und war erledigt. Er war fertig mit der Welt, denn er brauchte nur sie, Elena, und sie wollte ihn immer noch.
Ich liebe dich, sagte sie in seinen Gedanken. Du hättest all das nicht vor mir verbergen müssen.
Das wusste ich nicht.
Jetzt weißt du es. Ihr Geist zog sich zurück, in ihren eigenen Körper.
Artur versuchte sich aufzurichten. Doch Hände legten sich auf ihn, drückten ihn herunter: Zugbegleiterin Gogunov, deren Augen so groß wie Bachkiesel waren, rund und weich vor ehrfürchtigem Staunen. Amiri sah nach Elena, legte seine Hand auf ihren Hals.
»Ihr Herz ist sehr stark«,
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