Shadow Touch
weiter, während sie sich nur auf eines konzentrierte: diese schwarzen Vorhänge, die Türen. Als sie an ihnen vorbeiging, beschlich Elena das Gefühl, auf der rasiermesserscharfen Schneide von etwas Gewaltigem, Geheimnisvollem zu balancieren; das schwere Gewicht von Möglichkeiten lastete auf ihren Schultern. Hinter jeder Tür wartete eine Geschichte. Die Vorhänge verbargen Blicke auf andere Welten.
Vielleicht Blicke auf Menschen, Menschen wie sie selbst. Das war fast unmöglich hinzunehmen. Dafür waren die Chancen viel zu klein. Elena hatte immer geglaubt, sie wäre allein, und vielleicht war sie das auch. Vielleicht war sie die Erste, eine merkwürdige Absonderlichkeit, über die ihre Entführer zufällig gestolpert waren. Vielleicht aber auch nicht.
Sie sah den Mann an, der neben ihr ging. Er wirkte hart. Nicht unheimlich, wie diese Pseudopfleger, aber hinter seinem Gesicht verbarg sich etwas Eisernes.
»Werden Sie mir verraten, wo ich bin?«, wollte sie wissen.
»Nein.« In seiner Stimme schwang etwas Endgültiges mit, eine Warnung, ihn nicht zu nerven. Elena war normalerweise nicht besonders geschickt darin, solche Andeutungen wahrzunehmen, aber diesmal hielt sie lieber den Mund. Rictor war eine unbekannte Größe; manche Leute waren geborene Tyrannen, andere dagegen nicht. Bis sie genug über ihn in Erfahrung gebracht hatte, wollte sie ihr Glück lieber nicht strapazieren.
Er hielt ihren Arm fest, bis sie durch eine große grüne Tür gegangen waren, die die Zellen von der restlichen Einrichtung trennten. Im Hauptkorridor auf der anderen Seite ließ er sie los.
»Gehen Sie«, sagte Rictor mit einer auffordernden Handbewegung.
»Ich bin doch kein Hund«, erwiderte Elena, aber sie ging trotzdem. Ihr Arm schmerzte von seinem Griff, doch sie rieb ihn nicht.
Sie waren die einzigen Menschen in dem Korridor, der wie der Gang einer jeden Militärbasis aussah, die Elena im Fernsehen gesehen hatte. Dunkler, glänzender Beton mit weißen Rohren, die parallel zu den Wänden verliefen, eine gewölbte Decke, an der Glühbirnen in vergitterten Lampen brannten. Die Luft roch staubig und scharf. Elena versuchte, sich den Weg einzuprägen, und suchte nach auffälligen Zeichen am Boden und an den Wänden. Um sich zu orientieren, falls sie versuchen würde zu fliehen. Aber es war schwierig. Alles sah gleich aus.
Die Einrichtung schien riesig zu sein, das Ergebnis eines langjährigen Planes und von viel Geld. Sehr viel Geld - und wenig Angestellte. Sie hörte nur einmal andere Menschen, und das sehr weit entfernt. Es waren Stimmen, die zu ge-dämpft klangen, als dass sie die Worte hätte verstehen können. Aber Elena glaubte, eine Frau sagen zu hören: »... Wandlungsmechanismus unbekannt ... Tank ist nicht groß genug ...«
»Verdammter Mist!«, sagte ein Mann viel lauter, und dann wurde das Gespräch vollkommen unverständlich. Elena dachte über diese wenigen Worte nach und versuchte, aus ihnen schlau zu werden. Sie hätte fast gelacht. An einem Ort wie diesem aus etwas schlau zu werden war ein Witz. Ein tödlicher Witz.
Rictor wurde langsamer. Elena sah eine grüne Metalltür, auf der eine Frau als Strichmännchen gezeichnet war.
»Eine öffentliche Toilette?« Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
»Gemeinschaftsduschen«, erklärte der Mann. »Unsere Einrichtung ist leider auf das Nötigste beschränkt. Alle müssen teilen.«
Elena versuchte sich vorzustellen, wie Rictor in demselben Raum duschte wie der Arzt. Das Bild tat ihrem Kopf weh. Rictor warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, stieß dann die Tür auf und winkte Elena vor sich in den Raum. Sie gehorchte und betrachtete gleich darauf die surreale Normalität der weißen Fliesen und chromglänzenden Armaturen. Rechts von ihr befanden sich offene Duschkabinen, die Toiletten waren links. Feuchtigkeit waberte in der Luft, die Fliesen schienen glatt vor Feuchtigkeit. Jemand war eben gerade hier gewesen. Elena hatte sich noch nie so gefreut, eine ganz gewöhnliche Dusche zu sehen.
»Sie brauchen nicht zu duschen, aber wir müssen etwas mit Ihrem Haar anfangen.« Rictor lehnte sich an die Wand. Es kam ihr merkwürdig vor, so viele Worte aus seinem Mund zu hören. Er wirkte auf Elena nicht wie jemand, der im Allgemeinen viel redete. Allerdings ergaben die Worte selbst auch nicht viel Sinn.
Elena berührte ihr Haar. Es war zerzaust und verfilzt. Um bis zu ihrer Kopfhaut vorzudringen, brauchte sie vermutlich einen Diamantbohrer. »Sind Sie Friseur?
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