Shadow Touch
erwiderte er. Dann brach das Geschrei unvermittelt ab. Das Schweigen war aber fast ebenso schrecklich; es hinterließ ein Gefühl der Erschöpfung, als wäre die Luft selbst darüber froh, dass der Mann aufgehört hatte. Für einen Moment durchzuckte Elena ein tröstendes Gefühl, gepaart mit Gewissensbissen. Sie war nicht allein hier. Irgendwo befand sich noch jemand - und litt. Jemand anders war ebenfalls als Ziel ausersehen worden, man hatte ihre gemeinsame, behagliche Welt geschändet.
Es tut mir leid, dachte sie, als sie sich an die Qual in diesem langen Schrei erinnerte. Es tut mir so leid, dass ich so egoistisch bin.
Aber es tat ihr nicht leid genug, um die Erleichterung darüber zurückzunehmen.
Sie musterte Rictor und fragte sich, warum er wichtiger zu sein schien als die Männer in Weiß. Und was er getan haben mochte, um sich seinen Platz in dieser Einrichtung zu verdienen; warum er überhaupt für Leute arbeiten wollte, die Menschen entführten und sie dann für Laborexperimente missbrauchten. Mit einem solchen Hintergrund muss es verdammt schwer sein, eine Freundin zu finden, dachte sie.
Rictor stockte plötzlich und warf ihr einen seltsamen Blick zu, als wäre er verwirrt. Es war die erste einigermaßen menschliche Regung, die sie bisher an ihm wahrgenommen hatte. Dann wandte er den Blick rasch wieder ab. »Tun Sie, was der Arzt Ihnen sagt«, riet er ihr ruhig. »Provozieren Sie ihn nicht zu sehr. Er braucht Sie, aber er akzeptiert nur wenig Trotz.«
Es erstaunte Elena, dass er ihr diesen Rat gab, nach allem, was er ihr zuvor angetan hatte. Sie wusste nicht, ob er sie hereinlegen wollte oder ob er es ernst meinte. Wenn er es ernst meinte, dann hatte er eindeutig den falschen Beruf ergriffen, und seine Beweggründe waren geradezu verdächtig.
Rictor sah sie finster an. »Werden Sie auf mich hören?«
»Warum sollte ich das tun?«
Darauf erwiderte er nichts.
»He«, sagte Elena.
»Wir sind da«, erklärte er. Sie verstummte.
Der Raum entsprach überhaupt nicht ihren Erwartungen. Es gab keine Schränke mit Medikamenten und Geräten. Keine Tische mit Riemen oder blutigen Haken oder Fesseln und blutverschmierten Skalpellen. Hier gab es gar nichts Verrücktes. Nur weiße Wände, weiße Fliesen auf dem Boden, mit einem Abfluss in der Mitte, und dazu ein kleiner Tisch mit einem Gerät, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Ein schwarzer Monitor und ein Plastikkasten mit vielen Kabeln. Neben dem Tisch stand ein Stuhl. Rictor bedeutete Elena, sich hinzusetzen.
Dann nahm er eine Tube mit Gel aus einer Schublade des Tisches. »Deshalb mussten wir Ihr Haar schneiden und waschen.«
»Habe ich mir gedacht«, erwiderte sie, während sie versuchte, hinter den Grund für seine plötzliche Hilfsbereitschaft zu kommen. »Ein EEG kommt mit Haaröl oder Feuchtigkeit nicht zurecht.« Trotzdem hätte ich mein Haar behalten können, du Hundesohn.
»Nein«, erwiderte er. »Hätten Sie nicht.«
Elena blinzelte erschreckt. Rictor strich Gel auf eine Elektrode und klebte sie ihr auf den Kopf. Sie beobachtete sein Gesicht, das so ausdruckslos wirkte wie sonst auch. Ein gelangweilter Mann, der einen langweiligen Job erledigte. Er verdiente wirklich einen Oscar.
»Rictor.«
»Halten Sie still.«
Elena spielte mit dem Gedanken, auf dem Stuhl auf und ab zu hüpfen, nur um ihn zu ärgern, verabschiedete sich jedoch sofort von der Idee, als seine Hände ihren Kopf fester packten. Sie kam sich albern vor, aber sie musste diese Frage einfach stellen: »Können Sie meine Gedanken lesen?«
Er befestigte noch eine Elektrode an ihrem Kopf.
»Was ist mit dem Arzt?«
»Was soll mit ihm sein?« Die nächste Elektrode.
»Sie wissen schon.«
Sie erwartete, dass er sagte: Wie verrückt! Was für eine Fantasie! So etwas existiert doch nicht! »Nein«, sagte Rictor stattdessen. »Er ist nicht wie wir.«
»Mein Gott.« Elena starrte ihn an. »Und es gibt noch mehr?
Gibt es noch mehr Gefangene hier? Und warum zum Teufel sind Sie nicht auch eingesperrt?«
Er antwortete nicht. Von all den Dingen, die ihr passiert waren - die Entführung, und dass sie an einem unbekannten Ort aufwachte und wie eine Laborratte behandelt wurde - wühlte sie das hier am stärksten auf. Es erschütterte ihren Geist, ihr Herz, ihre ganze Weitsicht, weil sie sich immer gefragt, weil sie immer gehofft hatte ... und jetzt, endlich, die Bestätigung erhielt. Sie war nicht allein. Es gab noch andere wie sie.
Früher einmal, als Kind, hatte sie davon geträumt
Weitere Kostenlose Bücher