Shadow Touch
Reaktion auf diesen Ort selbst eine Art Test war, um herauszufinden, ob sie zusammenbrach, ob sie sich Wunden zufügte, ob sie Schaum vor dem Mund bildete und anfing zu delirieren. Sie glaubte, dass dem alten Mann so etwas gefiele. Sie hätte es fast ausprobiert, nur um zu sehen, was passieren würde, sich am Ende jedoch dagegen entschieden. Es war eine schlechte Idee, denn sie fürchtete, dass jeder Versuch, Wahnsinn vorzutäuschen, am Ende den wirklichen Wahnsinn einladen würde.
Elena achtete darauf, wann sie Essen bekam. Die Nahrung kam immer auf einem Tablett, das durch einen Schlitz am unteren Ende ihrer Tür hereingeschoben wurde. Bei ihrem ersten Abendessen in dieser Einrichtung bekam sie auch neue Kleidung: einen weichen grünen Arztkittel und dicke weiße Socken. Darüber war sie glücklich.
Nach ihrer zweiten Mahlzeit, Schinkensandwich mit einem Apfel, legte sie sich auf die Matratze, schloss die Augen und begann zu zählen. Jedes Mal, wenn sie bei sechzig angekommen war, riss sie ein Stück Toilettenpapier ab. Eine Minute, ein Fetzen. Sie tat dies so lange, bis sie mehr als zweihundertvierzig Fetzen Toilettenpapier zusammenhatte, dann gab es ein Geräusch an der Tür, und ein Tablett glitt durch den Schlitz. Ihre Zeitmessung war zwar nicht genau, aber das störte Elena nicht. Vier Stunden zwischen den Mahlzeiten. Drei Mahlzeiten am Tag. Nach der letzten Mahlzeit kam eine Weile gar nichts. Erst doppelt so viele Stunden später.
Während der siebten Mahlzeit rechnete sie nach, dass sie seit mehr als zwei Tagen gefangen gehalten wurde, vermutlich sogar länger. Das hing davon ab, wo man sie festhielt und wie lange sie bewusstlos gewesen war. Elena nutzte die Zeit, um jeden Zentimeter ihrer Zelle abzusuchen - und sie suchte nach allem, was als Waffe benutzt werden konnte. Der Wasserbehälter hinter der Toilettenschüssel hatte keinen Deckel zum Abnehmen, ebenso wenig, wie man den Sitz entfernen konnte. Es gab hier einfach nichts, womit man hätte zuschlagen können, außer ein paar Rollen Toilettenpapier. Elena konnte sich alle möglichen Monty-Python-Streiche mit dieser Waffe vorstellen. Bedauerlicherweise war sie vermutlich die einzige Person an diesem Ort, die das komisch fand.
Schließlich begnügte sie sich damit, ihre Fingernägel mit den Zähnen aufzurauen, sie spitz und scharf zu machen. Das war gut, wenn man kratzen musste. Oder kämpfen. Es war zwar kein Schwert oder ein Stock, nicht mal ein Buttermesser, aber wenigstens war es etwas. Immerhin machten Illusionen neun Zehntel des Geheimnisses aus, glücklich zu sein.
Und sie war ruhig. Ihr Herz schlug langsam und sicher. Sie konnte atmen. Das war gut. Sie fragte sich, wie es Olivia wohl ging, ob sie sich besser fühlte. Mittlerweile sollte sie eigentlich schon herumlaufen. Elena war froh, dass es ihr vor ihrer Entführung gelungen war, das noch hinzubekommen. Ihre Lage, so schrecklich und verrückt sie auch sein mochte, sie wäre noch viel schlimmer, wenn man sie in dem Wissen gekidnappt hätte, dass Olivia im Sterben lag oder vielleicht schon tot war.
Genieße dein Leben, dachte sie. Und fang was Nettes mit der Zeit an, die man dir geschenkt hat.
Es würde ja nicht ewig dauern. Das tat es nie, für niemanden. Der Tod erwartete sie am Ende alle, ob in zehn Jahren oder in hundert. Elena schob nur das Unvermeidliche ein wenig hinaus, gewährte die zweite Chance, die die Natur versagt hatte. Krebs war dabei leicht zu besiegen; der menschliche Körper schien bereits geneigt, ihr zu helfen. Herzkrankheiten, Lähmungen, innere Verletzungen, das war schon schwerer, wenngleich nicht unmöglich. Genetische Defekte dagegen, die komplexe Manipulationen und besonderes Wissen erforderten, überstiegen ihre Macht.
Nicht dass sie sich beschwert hätte. Was sie da vermochte, war schon Wunder genug.
Ein Wunder, das dich deine Freiheit gekostet hat.
Möglicherweise; dennoch bedauerte sie es nicht. Überhaupt nichts zu tun wäre unerträglich gewesen. Sie besaß eine Gabe, mit der sie den Menschen wirklich helfen konnte; sie brachliegen zu lassen, wäre ein Verbrechen gewesen.
Ihr Magen knurrte. Bald musste Essenszeit sein. Und richtig, kurz darauf hörte sie Schritte im Korridor vor ihrem Raum.
Diesmal jedoch klickte die Tür, das Schloss, nicht der Essensschlitz.
Elena sprang auf und grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Die Tür schwang auf. Es war der Arzt. Hinter ihm stand ein dunkelhäutiger Mann mit strahlend grünen Augen. Er trug ein eng
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