Shadow Touch
und es sich gewünscht. Wie wundervoll das wäre. Kein Freak zu sein, nicht das Opfer eines Blitzes, der nur einmal einschlug und dann nie wieder.
Aber sie wäre lieber allein gewesen, als es auf diese Weise herauszufinden.
Elena wollte etwas sagen, doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Sie versuchte es noch einmal, flüsternd. »Wie? Das ergibt doch keinen Sinn. So viele kann es nicht geben. Die normalen Menschen würden es sicher bemerken, oder nicht? Die Nachrichten würden sich darauf stürzen.«
»Sie haben es doch auch geschafft, nicht in die Nachrichten zu kommen«, erklärte Rictor. »Habe ich jedenfalls gehört.«
»Das bedeutet nicht ...«
»Es gibt sechs Milliarden Menschen auf der Welt«, unterbrach Rictor sie. Er wirkte immer noch gelangweilt, während er die Elektroden an ihrem Kopf befestigte, doch er redete immerhin, und Elena sehnte sich verzweifelt nach Worten. »Wenn ein halbes Prozent der Weltbevölkerung solche einzigartigen Fähigkeiten besäße, wären das dreißig Millionen. Selbst wenn der Prozentsatz noch geringer wäre, reden wir immer noch über sehr viele Menschen. Und jetzt seien Sie still!«
Elena wollte weitersprechen, aber sie hörte ein Geräusch von der Tür. Es war der Arzt. Er hatte einen Karton in der Hand.
»Ah«, sagte er, als er sah, wie Rictor Elektroden auf Elenas Kopfhaut klebte. »Ich dachte, Sie wären schon fertig.« Er musterte die Kratzspuren von Elenas Nägeln an Rictors Nacken. »Probleme?«
»Nein«, gab Rictor zurück und arbeitete weiter.
Der Arzt betrachtete Elenas Kopf. »Steht Ihnen gut, meine Liebe.«
Sie widerstand dem Drang, ihm mitzuteilen, wie schnell er von ihr aus zur Hölle fahren konnte. Rictors Hände spannten sich auf ihrem Kopf an, was ihr sagte, dass sie offenbar eine sehr gute Entscheidung getroffen hatte.
Etwas in der Kiste bewegte sich. Elena hörte ein leises Jaulen.
»Ich bin fertig.« Rictor trat von Elena zurück und betätigte einen Schalter an der Maschine. Nach ein paar Sekunden flammte der Monitor auf und zeigte Zahlen und Dialogfelder.
»Strecken Sie Ihre Hände aus!«, befahl der Arzt. Elena zögerte kurz und dachte an Rictors Worte. Tun Sie, was der Arzt Ihnen befiehlt. Provozieren Sie ihn nicht zu sehr.
Sie erinnerte sich an die Schreie des Mannes, den viehischen Klang seiner Stimme.
Sie streckte die Hände aus. Der Arzt sah Rictor an, der an ihr vorbeigriff und den Karton entgegennahm. Der alte Mann öffnete den abgenutzten Deckel. Elena roch Blut.
»Nein«, stieß sie hervor, als er den Inhalt herausnahm. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein kleiner Welpe, ein Beagle. Aber das war wegen seiner Verletzungen schwer zu erkennen, wegen all des Blutes, das seinen misshandelten Körper bedeckte. Eine kleine Tatze bewegte sich; unter den geschlossenen Lidern regten sich auch die Augen.
»Ich beginne gern bescheiden«, erklärte der Arzt. »Um gewisse Parameter festzulegen. Stellen Sie sich das hier vor wie ein Blitzlicht, das in Ihr Auge scheint.«
Er legte ihr das sterbende Tier in die Hände. Entsetzt hielt Elena den Welpen fest, versuchte ihn so zu halten, dass sie ihm nicht noch mehr Schmerzen bereitete. Blut verschmierte ihre Beine, tropfte auf die weißen Bodenfliesen. Jetzt wusste sie, wofür der Abfluss gedacht war. Der Arzt lächelte. Rictor sah gelangweilt aus.
»Das kann ich nicht«, flüsterte sie. »Ich ...«
»Die Verletzungen sind frisch und sehr schwer«, unterbrach sie der Arzt. »Er wird gleich in einen Schockzustand verfallen. Wenn Sie noch lange warten, wird er sterben, und dann bin ich gezwungen, das Experiment zu wiederholen, mit einem anderen Tier. Sind Sie wirklich so herzlos, meine Liebe?«
Ja, ich bin so herzlos. Denn sie zweifelte nicht daran, dass der Arzt dieses Tier, ohne zu zögern, für einen weiteren Test erneut so zurichten würde, wenn sie es gerettet hatte. Diese Art von Folter sollte kein lebendes Wesen erdulden müssen.
Doch dann öffnete der Welpe die Augen und sah sie an, auf eine Art und Weise, wie es nur ein kleines, hilfloses Tier tun konnte. Sie erinnerte sich an ein winziges Kaninchen, das übel zugerichtet war, an ihre Mutter, die sagte: »Mein Gott, du bist vielleicht ein Freak«, und an ihren Großvater, der rannte, so schnell er konnte, um das Beil aufzuhalten. Sie legte den Welpen flach auf ihren Schoß. Sie sah weder den Arzt noch Rictor an, als sie die Hände auf die herausstehende Rippe des Tieres legte. Sie versuchte, nicht einmal an die Männer zu denken, als
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