Shadow Touch
zu schreien, so würde er nicht mehr aufhören; er hatte auch als Junge nicht aufhören können, und seine Mutter, seine arme Mutter ...
Verlier dich nicht. Konzentriere dich aufs fetzt, auf diesen Augenblick. Nichts anderes zählt, gar nichts.
Artur zwang sich, stehen zu bleiben. Er stemmte seine Füße fest gegen den Boden und zwang sich, Luft zu holen. Jeder Atemzug beschwor eine Vision herauf, ein Stück einer anderen Seele. Er schmeckte die Furcht eines Fremden in seinem Kopf, endlos und unsterblich in der Gewissheit des Untergangs: Ich komme hier niemals lebend raus.
Dieses Gefühl kannte Artur. Er hatte es selbst empfunden, vor mehr als zwanzig Jahren, als er auf eine ähnliche Art und Weise überrollt worden war, ausgestoßen, um zwischen Fremden in der Dunkelheit hockend den Verstand zu verlieren. Damals war er zwölf Jahre alt gewesen, und unerfahren in der Handhabung seiner Gabe. Ausgeliefert. Hilflos.
Ich dachte, ich wäre allmählich stärker geworden. Er war jetzt älter, geübter. Er war im Laufe der Jahre gegen diese schockierende Flut von Gefühlen und Erinnerungen etwas abgestumpfter geworden, gegen diese schizophrene Invasion von Geistern, die so anders waren als sein eigener.
Aber das spielte jetzt keine Rolle. Nicht im Geringsten.
Es fiel ihm schwer zu atmen. Seine Brust tat weh. Artur senkte den Blick. Ein großer blauer Fleck bedeckte seine Haut. Er sah das kleine Loch über seinem Herzen. Es war ein Betäubungspfeil gewesen, keine Kugel.
Es war eine Lüge. Sie will dich immer noch. Sie braucht dich.
Artur sah sich in dem kalten Raum um. Überall weiße Fliesen. Weder Möbel noch Fesseln. Eine Tür. Artur wollte nicht zu der Tür gehen. Wenn er ging, bedeutete es nur mehr Erinnerungen, neue ... und all das konnte sich zu einem letzten, tödlichen Schlag gegen sein schwaches Hirn verschwören. Er berührte seine Nase. Sie blutete nicht, noch nicht.
Bleib hier stehen und stirb, oder tu etwas und stirb. Das ist die Alternative.
Artur trat zur Tür. Es kostete ihn seine ganze Willenskraft, nicht auf den Zehenspitzen zu rennen, wie eine in die Jahre gekommene Comicfigur. Er war sicher, dass hier Kameras installiert waren, dass ihn jemand beobachtete. Also schritt er würdevoll weiter, als kümmere es ihn nicht, dass sein Hirn brannte und jeden Augenblick explodieren konnte.
Fremde Erinnerungen spülten über ihn hinweg: harte Männer, kräftige Männer, die mit den Betäubten, Nackten und Benommenen kämpften. Warum zum Teufel machen sie sich diese Mühe? Jesus, sie hat versucht, mich zu beißen. Scheiß drauf, scheiß auf diesen Freak, fuck you!
Artur blieb vor der Tür stehen und zog seine Unterwäsche aus. Er riss sie am Saum auf, wickelte sie um seine Füße und versuchte, sie an den Knöcheln zu verknoten. Seine Hände zitterten, und seine Finger waren steif - ungeschickt. Der Stoff entglitt ihm immer wieder. Schließlich gab Artur auf. Es musste genügen, auf seiner Wäsche zu stehen.
Das tat es auch. Erleichterung jubilierte in seinem Kopf, die kühle Leere eines vollkommenen Schweigens. Artur presste die Handflächen gegen seine Augen. Sein Kopf tat weh, er fühlte noch immer Nägel an der Basis seines Hirns, doch die Ruhe wirkte wie Balsam. Er hockte auf zwei kleinen Inseln aus Stoff, so nackt wie bei seiner Geburt.
Artur öffnete die Augen. Die Tür erwartete ihn wie ein Monster. Er berührte den Knauf ...
Neue Erinnerungen überfielen ihn; dieselben Leute, Häscher und Opfer, prägten sich, aus einem anderen Winkel, in anderen Momenten, in seinen Geist ein, bis dieser die Echos ihrer Seelen hinausschrie, die Echos tiefster Furcht und Verwirrungen. Seine Kopfhaut schien sich von seinem Schädel abzuschälen. Zu voll, zu viel Feuer und ...
... es wird Zeit, den Verstand zu verlieren ...
Ein Geräusch drang durch das Chaos. Ein reales Geräusch, kein Widerhall aus seinem Kopf. Artur ließ den Knauf los. Das barmherzige Schweigen kehrte zurück, aber nur für einen Augenblick; er hörte das Schlurfen von Füßen, leise St imm en. Dann ein lautes Klicken; der Knauf drehte sich.
Artur taumelte zur Seite und verließ dabei den Schutz seiner Kleiderinseln. Das Chaos kehrte zurück, aber diesmal waren ihm die Visionen vertrauter, er konnte sie unterscheiden und sammelte Kraft, um sich zu konzentrieren. Die Tür öffnete sich nur einen Spalt, nicht weit genug, dass er hätte hinausblicken können. Eine harte Stimme gab einen Befehl: »Treten Sie zurück, damit ich Sie sehen kann.
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