Shadow Touch
sie tief in ihr Herz versank, ihre Kraft aufrief, die Essenz dieses wundervollen Schmerzes, mit dem sie jedes Mal rang, wenn sie sich selbst für andere benutzte. Ihre Haut kribbelte, als die Macht anschwoll, höher, stärker, bis sich ihr Körper anfühlte, als wäre er von Blitzen eingehüllt. Krebs war etwas anderes, Krebs war einfach. Dies hier erforderte jedoch mehr, viel mehr. Sie verlor ihre Sehkraft, aber ihre Hände lagen noch auf dem Welpen, und sie fühlte ... konnte das kleine Herz fühlen, den misshandelten Körper, und sie presste seinem Geist ihren Willen auf und zwang ihn zu heilen.
Nimm etwas von mir, sagte sie ihm. Nimm ein wenig von dem, was ich zu geben habe.
Das tat er - und durch das Rauschen in ihren Ohren, durch den Schmerz hindurch hörte sie, wie der Arzt flüsterte: »Aufregend.«
4
In seinem letzten bewussten Moment war Artur überzeugt, dass er sterben würde. Der explosive Schmerz in seinem Kopf und in seiner Brust war so stark wie ein Donnerschlag, tödlich, endgültig, und als er in den Albtraum fiel, war es wie die Hölle, wie dieses Inferno, das auf ihn wartete, so scharf wie ein Kuss von glühendem Eisen, das seinen Verstand mit einer gewaltigen Woge seiner Sünden blendete. Es war eine albtraumhafte Symphonie, das Kreischen von Myriaden von Leben, seinem eigenen und dem anderer, als er in die Vergangenheit gesaugt wurde, wo die Welt voller kahler, fensterloser Betonräume war, mit Dutzenden von verhungernden, schmutzigen Jungen, die sich zusammenkauerten, wie die Tiere lebten, aufwuchsen und verreckten, unerwünscht, weil sie gebrochen waren, fehlerhaft, verloren und jenseits jeder Hilfe, jenseits aller Liebe ...
Endlos und unsterblich. Ich könnte dich in einer Erinnerung gefangen halten, weißt du. Such dir eine aus, Artur. Such dir deinen geeigneten Horror selbst aus. Vielleicht deine Mutter, hm? Als sie dich ins Waisenhaus gebracht hat und du ihr zugesehen hast, wie sie die Papiere unterschrieb, diesen entzückenden Namen niederkritzelte, während du heulend mit den Fäusten auf den Boden getrommelt hast, die Männer dich wegschleppten und sie sich nicht einmal umgedreht hat, um sich zu verabschieden, dir kein »Ich liebe dich« zugeflüstert hat, auch kein »Tut mir leid« oder »Ich komme zurück«, weil, o ja, es war für immer, sie hat dich dort gelassen, damit du krepierst, du unnatürlicher Sohn, du Last, du Parasit...
Nein. Artur riss sich von der Stimme los, die so melodisch, dunkel und einschmeichelnd klang. Er kämpfte darum, sein Bewusstsein wiederzuerlangen. Nein, dachte er. Du irrst dich.
Ich irre mich nie, Artur. Niemals. Du hättest zu mir kommen sollen, als du noch die Chance dazu hattest, als du noch eine freie Entscheidung treffen konntest, als du noch ...
Artur fühlte den Schmerz. Er klammerte sich an dieses unangenehme Gefühl und ließ sich von der Stimme wegführen. Er genoss seine wunde Kehle, den Schwindel, den Schmerz in der Brust. Er lenkte seinen Verstand durch diese Qualen und war froh darüber. Froh über die Leiden des Körpers, die ihn von dieser Stimme fernhielten, von ihrer schrecklichen, geduldigen Gewissheit.
Er lebte. Das war auch gut.
Artur bewegte die Arme, die Hände, strich mit den Fingern über die Fläche unter ihm. Sie war kühl und glatt, angereichert mit Echos einer anderen Art von Schmerz. Verwirrung ... Wo bin ich, o Gott, o ... verdammt, mir tut alles weh; ich ... bitte fass mich nicht an, bitte, ich wollte gerade ein Medizinstudium anfangen; bitte ...
Artur erstarrte, hob dann langsam die Hände und schlug die Augen auf.
Er trug keine Handschuhe; und auch sonst nicht viel. Bis auf seine Unterwäsche war er nackt. Vollkommen entblößt.
Artur richtete sich ruckartig auf und schwankte, als ihn der Schwindel schüttelte. Er kauerte sich zusammen, würgte, doch seine Kehle war so trocken, dass er nur Schmerz empfand. Schmerz, immer nur Schmerz, seinen und den anderer - er konnte diese Woge nicht aufhalten, konnte die Sturzflut in seinem Kopf nicht bremsen, als seine nackten Füße über den kalten Boden tanzten und Sicherheit suchten, eine jungfräuliche Fliese, etwas, das noch nicht berührt worden war.
Er fand nichts. Wohin er auch trat, traf er auf Erinnerungen von anderen Seelen. Es strömte so viel durch seinen Kopf, dass er kaum unterscheiden konnte, wo seine eigenen Erinnerungen aufhörten und die der Fremden begannen. Ein Schrei stieg in ihm hoch, doch er unterdrückte ihn, bezwang ihn. Fing er erst einmal an
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