Shadow Touch
Elena. Ich vertraue Ihnen noch ein wenig länger.«
»Auch wenn es dich das Leben kosten kann?« Rik riss seinen Blick nur kurz vom Ozean los, um ihm in die Augen zu schauen.
»Auch dann«, erwiderte Amiri. »Außerdem bin ich bereits tot. Es steht irgendwo geschrieben, mit Zeit und Ort. Doch bis dieser Moment kommt, bleibe ich unverwundbar.«
»Borges«, sagte Artur.
»Sie sind gebildet.«
»Nein«, widersprach Artur. »Aber ich habe versucht, das auszugleichen.« Er musterte die Straße. »Ich sehe den Wagen noch nicht, aber direkt vor uns gibt es einen Pier. Unter ihm wird eine Stelle sein, wo Sie sich wandeln können.«
Sie verließen das Krabbenrestaurant. Es schien eine unausgesprochene Vereinbarung, dass sie alle zusammen gingen. Es war vielleicht nicht klug, weil sie als Gruppe selbst aus der Ferne gut zu erkennen waren, aber keiner wollte Zurückbleiben. Vielleicht war es eine Art Rudelverhalten. Oder nur die Angst davor, allein zu sein. Die Böschung fiel von der Straße aus sanft ab, sie konnten leicht zum Ufer hinuntergehen. Überall lagen Krebsreste herum, Fischabfälle, alte Angelschnüre und Haken. Die Sonne fühlte sich auf ihrem Gesicht gut an, obwohl Elena fürchtete, die Grundierung könnte möglicherweise verschwinden.
Unter dem Pier war es dunkel und kühl. Es war ein langer, schmaler Streifen aus Sand und Felsen. Keine Menschen. Falls jemand von den Booten sie beobachtete, die auf dem Meer ankerten, so steckten sie in Schwierigkeiten. Aber Elena vermutete, dass dies für Rik trotzdem der beste Ort in der ganzen Stadt war.
Er zog weder seine Schuhe noch seine Kleidung aus, sondern hockte sich nur an die Wassergrenze. Er tauchte seine Hand ins Meer und leckte sich die Finger, einen nach dem anderen.
»Jetzt ist der Augenblick«, meinte Artur. »Verschwinden Sie von hier, so schnell Sie können.«
»Kehr nach Hause zurück«, sagte Amiri. »Wenn du es schaffst, ohne dich in Gefahr zu bringen. Such deine Familie.«
»Familie«, murmelte Rik.
Er hätte es fast getan. Er wäre fast mitsamt seiner Kleidung ins Wasser gesprungen. Elena erkannte es daran, wie sich seine Muskeln unter dem Hemd anspannten, an dem subtilen Schimmer auf seiner Haut. Doch er hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Ich kann warten«, erklärte er, obwohl die brüchige Stimme seine Worte Lügen strafte. »Sie brauchen alle Hilfe, die Sie bekommen können. Ich stehe noch in Ihrer Schuld.«
»Nein«, widersprach Artur, aber Rik sah ihn scharf an.
»Doch, ich schulde Ihnen etwas.« Diesmal duldete seine Stimme keinen Widerspruch. Er sah Amiri an, der neben Elena stand, so schlank und dunkelhäutig wie ein eleganter Schatten. Rik presste die Lippen zusammen. »Außerdem muss ich an meinen Bruder denken. Ich habe mir nie träumen lassen, einmal jemandem von meiner Art zu begegnen. Ich kann ihn jetzt nicht verlassen. Nicht, wenn da Gefahr lauert.«
Amiri senkte den Kopf. »Meine Entscheidung zu bleiben«, erwiderte er leise, »sollte dich nicht zwingen. Du bist mir nicht verpflichtet.«
Rik schnaubte verächtlich. »Jeder Mann sucht sich seine Verpflichtungen selbst aus, Amiri. Belassen wir es dabei.«
Am iri gab nach. Sie gingen von dem Pier wieder zur Straße zurück. Rik drehte sich ein letztes Mal zum Pazifik um; sein Haar hatte denselben blaugrauen Farbton wie der Horizont. Seine Haut glühte.
Dann erstarb das Leuchten, und er drehte sich nicht mehr um.
Als sie die Straße erreichten, wartete der Wagen bereits auf sie. Eine lange, schwarze Limousine mit getönten Fenstern parkte vor dem Krabbenrestaurant, als wartete sie auf irgendeinen Bonzen, der dort aß. Der Fahrer stieg aus, als er Artur und die anderen sah. Er war groß und gut gekleidet. Ein eleganter Schläger. Er öffnete die Tür des Fonds und zuckte mit keiner Wimper, als diese vier merkwürdigen Fremden an ihm vorbei einstiegen. Artur sagte etwas auf Russisch zu ihm. Als Antwort erhielt er ein ernstes Nicken.
Elena betrachtete die Umgebung. Von dem stillen Mann war nichts zu sehen, ebenso wenig, wie sie das Hotel Ekvator finden konnte. Mikhails Geheimgang endete an einer ganz anderen Stelle, als er begann. Gott segne seine Halunken.
Sie erreichten in nicht einmal fünf Minuten den Hauptbahnhof von Wladiwostok, der an einer gepflasterten Straße lag, die mit stinkenden Bussen und kleinen Wagen verstopft war. Durch den bläulichen Abgasdunst betrachtete Elena das reich verzierte, cremefarbene Bauwerk mit dem dreifachen Portikus und den kleinen
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