Shadow Touch
Pistole, aber sie war ehrlich genug zuzugeben, dass sie es zu schätzen wusste, wenn jemand anders dies tat.
Von ihrem Standort neben einem staubigen Plastikbaum aus beobachtete sie, wie sich Artur durch die Menschenmasse drängte. Es war das reinste Chaos. Gebeugte alte Frauen, die Plastikbeutel schleppten, in dicke Pullover gehüllt waren und ihr Haar unter bunten Schals verbargen; schlanke Männer mit flinken Augen, die laut in Handys hineinredeten; eine Reisegruppe aus Asien, eine winzige Armee mit roten Kappen und eine russische Frau an ihrer Spitze, die eine Fahne mit chinesischen Schriftzeichen hochhielt. Es waren unzählige Menschen; in der riesigen Bahnhofshalle schienen sich tausenderlei verschiedene Nationen zu drängen. Artur schob und stieß, bis er die Spitze der Schlange erreicht hatte. Hätte Elena es nicht mit eigenen Augen gesehen, sie hätte es niemals für möglich gehalten.
»Er wird einen Streit vom Zaun brechen«, meinte Rik. Elena stimmte ihm zu.
Amiri lächelte nur. »Schaut euch ihre Gesichter an.«
Elena tat es; diejenigen, die anfingen, wegen Arturs Verhalten zu protestieren, warfen einen Blick in sein Gesicht und machten ihm Platz. Je länger Elena zusah, desto deutlicher schien es ihr, dass es in diesem Wahnsinn eine Methode gab. Eine Art Hackordnung. So viel zum Thema Subtilität. Elena sprach den Gedanken aus, und Amiri lächelte erneut.
»Bei mir zu Hause ist es genauso. Geduldige Schlangen sind eine Errungenschaft von Gesellschaften, die viel zu geben haben. Deshalb haben die Menschen die Geduld und das Vertrauen zu warten, ohne dass das Gewünschte ausgeht. Aber wenn man nichts hat, bedeutet jeder Stoß und jeder Schritt, den man seinem Nachbarn voraus ist, eine Chance, zu überleben und das zu bekommen, was man will, bevor es alle ist. Hier geht es ums Überleben.«
Und Artur Loginov ist ein Überlebenskünstler.
Was Elena, wenn sie genauer darüber nachdachte, verdammt sexy fand.
Jedenfalls wirkte Artur sehr sexy, als er mit einem leichten Grinsen im Gesicht vom Fahrkartenschalter zurückkam. Er hielt vier Tickets in den Händen, die er verteilte.
»Wir haben Glück«, sagte er. »Heute ist ein gerader Tag, also fahren wir mit dem Rossiya nach Moskau. Es ist der geeignete Zug für diese Reise. Ich habe uns Tickets für die erste Klasse gekauft.«
»Wie lange brauchen wir bis nach Moskau?«
»Fast eine Woche.«
»Eine Woche? Artur, in einer Woche kann alles Mögliche passieren. Und Züge sind nicht gerade das beste Versteck.«
»Leichte Ziele, nicht wahr? Ich weiß, Elena, aber wir können nicht fliegen. Unsere Reisepässe würden am Flughafen keiner Überprüfung standhalten. Selbst Fahren geht schon nicht, weil es einfach zu lange dauern würde. Bei der Eisenbahn werden die Dokumente aber nicht so genau geprüft, und wenn doch, kann man die Beamten hier leichter be-stechen. Nein, der Zug ist unsere beste Wahl, auch wenn es riskant sein mag.«
»Außerdem wird es recht knapp«, meinte Rik. »Wenn sie jetzt nämlich den Zeitplan ändert? Das könnte sie ohne Weiteres tun, nach allem, was passiert ist.«
»Das ist unwahrscheinlich«, widersprach Artur. »Dieses Treffen ist zu wichtig, um den Termin im letzten Augenblick zu verändern. Außerdem würde den Bossen die Bedeutung einer so plötzlichen Zeitänderung nicht schmecken. Wenn man etwas im letzten Moment ändert, bedeutet das Ärger, und zwar meistens die Art Ärger, bei der es um Leben und Tod geht. Nein. Ich glaube, sie wird so tun, als wäre alles in Ordnung, sie wird zu diesem Treffen gehen und anfangen, die Anführer der Syndikate zu einer Allianz zu überreden, mit Würmern im Hirn - als Sicherheit.«
Amiri schüttelte den Kopf. »Ihre Macht kann nicht grenzenlos sein.«
»Woher wissen Sie das?« Elena runzelte die Stirn. »All diese Dinge, die wir zu tun vermögen ... Nichts davon ergibt Sinn. Selbst der Arzt in dieser Einrichtung hat versucht, es zu verstehen, aber ich glaube nicht, dass er jemals eine zufrieden stellende Erklärung gefunden hat.« Jedenfalls keine, die er ihr hätte vermitteln können. Allerdings hatte sie auch nicht viele Gelegenheiten gehabt, ihn danach zu fragen. Was Elena immer noch frustrierte. Nachdem ihr klar geworden war, dass sie nicht allein war, wollte sie mehr: mehr Informationen, mehr Warum und Warum nicht. Warum konnte sie heilen, während andere ihre Gestalt wandelten? Wieso vermochte ein Mann nur mit einer Berührung die Erinnerungen von anderen zu lesen, während ein
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